Erinnerungen aus Stefan Litwins „Allende, 11. September 1973“

Musik gegen das Vergessen

Daniel Osorio

Im Chile der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts wuchs nach dem blutigen Militärputsch von 1973 unter der Pinochet-Diktatur eine Generation des Vergessens heran. Das ist meine Generation.

Nach all den Jahren ist es für jene, die wir unterm Militärstiefel geboren wurden, immer noch beunruhigend, das Stück „Allende, 11. September 1973“ zu hören. Durch die Waffen des Regimes und die Postulate von Milton Friedman, der die Chilenen zu Versuchskaninchen seiner Wirtschaftstheorie machte, waren wir zu schweigen gezwungen. Dieses Schweigen wird in Litwins Stück gebrochen. Das Klangritual vertreibt für einen kurzen Augenblick unsere Trauer und Apathie. Die (einst vergessenen) Worte von Salvador Allende – durch die Stimme des Sprechers in das Geflecht von Klarinette, Cello und Klavier eingewoben – rufen die Geister einer unterdrückten Widerstandsgeschichte an, wie ein schamanischer Ritus des Gedächtnisses. Damals war es nicht ganz unmöglich, die Stimme von „Chicho“ – wie wir den gestürzten Präsidenten zärtlich nannten – zu hören, obwohl niemand wusste, woher oder wie diese illegalen Aufnahmen zu uns kamen. Manchmal brachte ein Unbekannter ein paar Kassetten mit Allendes Reden oder ein Rundfunksender des Untergrunds übertrug seine Stimme in den trüben Winternächten Chiles. Heute beeindrucken die Worte Chichos immer noch, so wie sie es schon damals taten – und gerade die jungen Leute, die, voller Lebensfreude und mit dem Wunsch nach einer besseren Gesellschaft, sich nie mit der offiziellen Propaganda zufrieden gaben. Einige von jenen, die noch kleine Kinder waren, als Pinochets Kampfflugzeuge den Präsidentenpalast „La Moneda“ bombardierten, haben die Botschaft des gefallenen Präsidenten in ihrem Innersten bewahrt. Sie sind die vergessenen Kinder, die kleinen Helden. Allende war für sie viel mehr als nur eine Erinnerung. Er war „der Mann des Friedens“, der durch seine moralische Integrität den Panzern die Stirn bot.

Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich selbst die Gewalt des Militärgewehrs spürte. Ich war ein neuer Schüler an einem Gymnasium in Santiago de Chile und unser Klassenzimmer befand sich in einem Kellerraum des Gebäudes. Eines kalten Herbsttages im Jahr 1983 riefen die Arbeiter zum Streik auf. Der wütende „General“ befahl seine Soldaten auf die Straße, um jeden Winkel des Landes zu überwachen. Wir eingeschüchterten Zwölfjährigen sahen im Gegenlicht, das durch die verschmutzten Fenster einfiel, nur die Stiefel der Soldaten, die Stellung bezogen. Wir wussten aber, dass noch in dieser Nacht ihre Kugeln wieder vielen Bewohnern der Armensiedlungen das Leben nehmen würden.

Die Musik in Litwins Stück ruft in mir die Stimme der Mitschüler wach und lässt sie gewissermaßen als Teil des Klangrituals widerhallen. Es waren die Jungen, nur etwas älter als ich, die die Stimme des Chicho nicht vergessen wollten. Einige von ihnen hatten entschieden, ihre Siedlung, in der sie geboren und aufgewachsen waren, zu verteidigen. Von der Diktatur und der immerzu opportunistisch-kriecherischen Presse wurden sie „Terroristen“ genannt. Für mich waren sie nur Kinder, die mit mir Fußball im Hof des Gymnasiums spielten. Sie waren die Kinder der Armen, junge Menschen mit Mut, die sich – vielleicht auch nur aus naiver Leichtfertigkeit – dem Staatssicherheitsdienst entgegenstellten. Da waren neben vielen anderen auch Rafael und Eduardo, die Brüder Vergara Toledo. Es dauerte 20 Jahre – ich schloss bereits mein Kompositionsstudium in Deutschland ab –, bis endlich auch ein chilenisches Gericht eingestand, dass diese Kinder in einem inszenierten Zusammenstoß von Sicherheitskräften kaltblütig ermordet worden waren. Bis dahin waren sie in den offiziellen Verlautbarungen als „Verbrecher“ bezeichnet worden.

Während ich die Musik in „Allende, 11. September 1973“ höre, denke ich an den langen schweren Weg dieser Generation. Das so sehr herbeigesehnte Ende der Diktatur und die spätere Regierung der Sozialdemokratie haben nicht zur erträumten Demokratie und Freiheit und schon gar nicht zu Gerechtigkeit geführt. Die Folterer laufen nach wie vor frei herum. Pinochet wird weiterhin ausschließlich als „ehemaliger Präsident“ und nicht als verantwortliche Schlüsselfigur für die Verbrechen am chilenischen Volk wahrgenommen. Die Geschichtsbücher wollen uns weismachen, dass der Militärputsch die richtige Entscheidung gewesen sei, „um das Land zu retten“. Diese Darstellung und die fortbestehende Straffreiheit der Verbrecher drohen tausende junge Menschen auf Dauer zu entmutigen. Die Vergangenheit schmerzt. Die Zukunft macht Angst. Das Bedürfnis, alle Erinnerung zu begraben und sich auf das private Leben zu beschränken, schafft sich Raum. Der Prozess des Vergessens vereinnahmt allmählich die Seele einer ganzen Generation. Inmitten einer vermeintlich „neuen“ Gesellschaft, in der viele der Ansicht sind, es gehe ihnen jetzt gut, sorgt das florierende Geschäft der riesigen multinationalen Konzerne auf vielfältige Weise für den Erhalt dieses Trugbildes.

Ich möchte die Fähigkeit, mich zu erinnern, nicht verlieren, die uns erst erlaubt, Mensch zu sein. Ich möchte auch nicht, dass Rafael und Eduardo und all die anderen Ermordeten einen sinnlosen Tod gestorben sind. „Allende, 11. September 1973“ ist weder aus Nostalgie noch aus Gründen des Agitprop entstanden. Es ist einfach der Ritus, der die Schatten unserer verlorenen Erinnerungen heraufbeschwört. Es strebt vielmehr danach, dem Prozess des Vergessens Einhalt zu gebieten und unsere Träume für eine bessere Gesellschaft aus dem Schatten der Geschichte wieder hervorzuholen, einer Zeit zugewandt, in der sich vielleicht „erneut die breiten Alleen auftun werden, durch die der freie Mensch zieht“.

„Nichts wird vergessen, niemand wird vergessen“, geht es mir immer durch den Kopf, während ich wieder in dem Stück „Allende, 11. September 1973“ versinke.

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"Musik gegen das Vergessen", UZ vom 8. September 2023



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