Oder: Wieviel Moral ist im „Wertewesten“ präsidial?

Murat Kurnaz und die Präsidenten

Kolumne

Auf der diesjährigen Biennale erhielt Andreas Dresens Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ viel Lob. Der Streifen erinnert an die perfide Verfolgung des jungen Bremers Murat Kurnaz, der als 19-Jähriger zum Studium islamischer Gebräuche nach Pakistan reiste, nach dem 9/11-Trauma als Terrorist verdächtigt und für ein Bakschisch an die USA ausgeliefert wurde. Das „Land der Freien“ internierte ihn als „ungesetzlichen Kombattanten“ in Guantánamo, dem exterritorialen Folterlager auf Kuba, das bis heute nicht geschlossen wurde und die amerikanischen Steuerzahler jährlich über eine halbe Milliarde Dollar kostet. Murat Kurnaz kostete es unwiederbringliche Lebenszeit.

09 Kolumne koenig hartmut 1331 - Murat Kurnaz und die Präsidenten - Repression, Terrorismus - Positionen

Obwohl bereits 2002 die Unhaltbarkeit der gegen ihn erhobenen Vorwürfe feststand, wurde Kurnaz, den klammheimlich auch BND-Beamte in Guantánamo verhört und für harmlos befunden hatten, erst 2006 freigelassen. Unter der damaligen rot-grünen Regierung war seine Rückführung vier Jahre lang verschleppt worden. Der Film erzählt, wie Murats Mutter um die Freiheit ihres Sohnes kämpft. So naiv wie klug, so verzweifelt wie entschlossen streitet sie an der Seite ihres in juristischer Sachlichkeit und in seiner humanistischen Gesinnung brillanten Anwalts. Sie gewinnt die Klage gegen den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, George W. Bush, und demaskiert am Beispiel eines Menschenschicksals die Maßlosigkeit der Verletzungen von Recht und Gesetz durch die Washingtoner Regierung. Verurteilt wird gleichsam die Amoral eines arroganten Weltgendarmentums.

In zeitlicher Nähe zur Filmpremiere stand die Wiederwahl Frank-Walter Steinmeiers ins Amt des Bundespräsidenten. Der wollte den Medien, die ihm bis dato eine eher fade präsidiale Impulsgebung attestiert hatten, mal rhetorisch schärferen Tobak anbieten. Aber gegen den Strich zu bürsten, das wusste man im Schloss Bellevue, kann unvorteilhaft enden. Wer als Bundespräsident danebentrat – Köhler: Die Finanzmärkte müssen wieder dem Primat einer demokratischen Politik folgen; Wulff: Der Islam gehört auch zu Deutschland – fiel bei passender Gelegenheit aus dem Amt. Richard von Weizsäcker hingegen setzte, als er vom 8. Mai als einem Tag der Befreiung sprach, straflos realistische Maßstäbe für die bundesdeutsche Geschichtsaufarbeitung.

Mut zur Korrektur hätte auch guten Stoff für eine Ruck-Rede des Wiedergewählten geboten. Als die deutsche Regierung Murat Kurnaz jahrelang in Guantánamo schmoren ließ, war Frank-Walter Steinmeier als Chef des Kanzleramts für die Koordinierung der Geheimdienste zuständig. Bei seiner erneuten Wahl zum Bundespräsidenten stand das Guantánamo-Camp im dritten Jahrzehnt seiner widerwärtigen Existenz. Da wäre ein Mea-Culpa samt aufrichtigem Bedauern in der Causa Kurnaz gute präsidiale Moral gewesen. Und, einmal in Fahrt, hätte der Reuefaden weitergesponnen werden können. Man war Hintergrundarchitekt der „Agenda 2010“, die sich wie ein Strang um das Dasein von Menschen in prekären Verhältnissen legte. Man war Geheimdienstbeauftragter, als die NATO mit deutscher Beteiligung Jugoslawien bombardierte. Und man stand in solcher Verantwortung, als nach den NSU-Morden die rassistisch gefärbten Vertuschungsmanöver deutscher Dienste den Angehörigen und einer antifaschistischen Öffentlichkeit Würgereiz bereiteten.

Aber der alternativlos Wiedergewählte arbeitete sich lieber am „Schlingenleger“ Putin ab, dem der Westen zu keiner Zeit die Abwehr permanenter NATO-Einkreisung zugebilligt hatte. Der mediale Mainstream, der bellizistischen Heißhunger schon lange jedem Plädoyer zu beiderseitig akzeptablen Sicherheitsgarantien vorgezogen hatte, applaudierte zufriedengestellt. Wie viel Moral ist präsidial? Bild dir deine Meinung!

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"Murat Kurnaz und die Präsidenten", UZ vom 4. März 2022



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