Für Wahlprogramme von Bürger- und sozialdemokratischen Parteien gilt der Satz Franz Münteferings von 2005: Es sei unfair, Politiker an ihren Wahlversprechen zu messen. Aus zwei Prozent Mehrwertsteuererhöhung (CDU) und Null (SPD) im Wahlkampf waren damals bei Koalitionsbildung drei Prozent geworden.
Eine Nutzanwendung daraus lautet: Wahlprogramme können erstens mit Details vollgepackt werden wie einst der Quelle-Katalog. An die Einzelheiten erinnern sich später nur Korinthenkacker. Zweitens: Aus vielen Versprechen sucht sich die Koalition einige heraus. Welche, kann bei Abgabe der Wahlversprechen keiner sagen. Müntefering hat immer recht.
Der Entwurf des Linke-Wahlprogramms, den die Ende Februar scheidenden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger am Montag im Berliner Karl-Liebknecht-Haus vorstellten, hat einen Umfang von 137 Seiten und enthält neben der Forderung nach langlebigen und leicht reparierbaren Küchengeräten oder der Abschaffung von Drückerkolonnen auch die nach der Einstellung von 200.000 Pflegekräften und für die eine Lohnerhöhung von 500 Euro. Verlangt werden ein Mindestlohn von 13 Euro und die Einführung der 30-Stunden-Woche. Es ist ein Katalog. Man wolle „soziale Mehrheiten“ schaffen, um alles durchzusetzen, erklärte Katja Kipping, und weiter: „Corona hat gezeigt, der Markt regelt nichts. Wir müssen den Markt regeln.“ Ihre Proklamation des „demokratischen Sozialstaats“ ruft angesichts von Krise, Krieg und Faschisten die Erinnerung an Tucholskys „älteren, aber leicht besoffenen Herrn“ wach, der im Wahlkampf 1930 begründete, warum er SPD wählt: „Es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich.“ Um „Markt regeln“ und „demokratischen Sozialstaat“ scheint es ähnlich zu stehen.
Das Riexinger-Kipping-Papier hat die Überschrift „Zeit zu handeln. Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit“. 90 Minuten nach den Linken präsentierten die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Kanzlerkandidat Olaf Scholz einige Kilometer entfernt im Willy-Brandt-Haus „Unsere Zukunftsmissionen für Deutschland“. Keine Details, nur wenige Seiten, ein Hochglanzflyer mit Reichweite bis ins Jahr 2050. Titel: „Zukunft für Dich. Sozial. Digital. Klimaneutral“. Im Karl-Liebknecht-Haus hatte ein Journalist gefragt, ob „Die Linke“ mit ihrem Wahlprogramm an das der SPD anknüpfe. Antwort Bernd Riexinger: Die Überschriften der SPD „scheinen direkt von uns abgeschrieben zu sein“. Der Unterschied: „Wir halten uns an Wahlversprechen.“ Katja Kipping fügte an: Es gebe zwar Schnittstellen, auf „Die Linke“ sei aber „Verlass bei Entspannung, Frieden und Krieg“. Sowie: „Wir würden nie einen CDU-Mann ins Bundeskanzleramt wählen.“ Man fängt klein an und regiert erst einmal nur in Thüringen mit der CDU.
Fest steht nach diesem Montag: Die SPD folgt dem Klassiker Müntefering und verspricht wenig, Die Linke umso mehr. Die SPD bietet, was früher, als Helmut Schmidt dafür den Arztbesuch empfahl, „Visionen“ hieß. Versprechenskatalog-Erbe ist jetzt Die Linke. Nach dem Kapitalismus, der in beiden Fällen die Rechnung ausstellt, zu fragen, wäre bei beiden vor der Wahl unfair: Das Wort kommt in keinem der Papiere vor.