Sehr geehrter Herr Lüngen,
die Ausstellung „Gegen das Vergessen – Widerstand und Verfolgung in Mülheim an der Ruhr 1933-1945“ der VVN-BdA Mülheim dürfte Ihren bekannt sein. Sie zeigt, welch schreckliche Konsequenzen Ausgrenzung, Diskriminierung und die Unterdrückung Andersdenkender im Extremfall haben können: Terror, millionenfacher Mord und Krieg. Sie zeigt auch, wie sich in Mülheim einzelne Menschen, Gruppen und Organisationen der faschistischen Diktatur verweigerten.
Wie die ehemalige Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld in ihrem Vorwort zur Begleitbroschüre der Ausstellung betont, kann diese „seit Jahrzehnten als aufschlussreiches Bildungsmaterial zur Geschichte des Nationalsozialismus von Mülheimer Schulen kostenlos ausgeliehen werden.“ Auch in anderen städtischen Einrichtungen z. B. den Stadtteilbibliotheken, dem Ringlokschuppen, dem Rathaus oder dem Theater an der Ruhr wurde und wird die Ausstellung gezeigt. Außerdem in kirchlichen Einrichtungen, in der Mülheimer Polizeiinspektion und dem Polizeipräsidium Essen/Mülheim. Zuletzt war sie von März bis Juni im Foyer des Stadtarchivs zu sehen.
Auf dem Hintergrund dieser langjährigen und guten Beziehungen zu den verschiedensten Mülheimer Institutionen gibt ein aktueller Vorfall nun Anlass zu Befremden und Besorgnis: Im Nachgang zu einem Besuch des Stadtarchivs hatte die Realschule Stadtmitte die Ausstellung angefragt. Der Aufbau erfolgte am Mittwoch, den 31. August. Am Freitag, den 2. September, erreichte uns eine E-Mail folgenden Inhalts:
„Liebe Frau Ketzer,
aufgrund der doch großen Verunsicherung in unserem Kollegium bezüglich Ihrer Person und Ihrer Parteizugehörigkeit hat unsere Schulleitung sich mit der Rechtsabteilung der Bezirksregierung kurzgeschlossen. Wir haben nun 3 Optionen: 1. Ihr Kollege führt alleine durch die Ausstellung 2. meine Kollegen besprechen die Ausstellung alleine mit den Klassen Oder 3. wir bauen wieder ab. …“
Bei der angesprochenen Frau Ketzer handelt es sich um Inge Ketzer, eine der Personen, die durch die Ausstellung führen.
Die VVN-BdA Mülheim ist mehr als irritiert über dieses Ansinnen der Schulleitung. Insbesondere auch, weil sich hier Fragen auftun, die mit ihrer Tragweite weit über den konkreten Fall hinausweisen.
Wir fragen uns:
- Seit wann ist die »richtige« Parteizugehörigkeit ein Kriterium, um in einem städtischen Gebäude durch eine Ausstellung führen zu können? Ein Blick in das Grundgesetz Artikel 4 und Artikel 5 wäre angeraten.
- Inwiefern ist das Rechtsamt der Bezirksregierung in diesen Vorfall involviert?
- Es gibt keine inhaltliche Begründung für die Ausladung – außer dem nebulösen Hinweis auf eine „Verunsicherung in unserem Kollegium bezüglich … Person und … Parteizugehörigkeit.“ Was ist so verunsichernd an einer Person, deren Eintreten für demokratische Bürgerrechte u. a. im Kontext der Initiative zum „Erhalt unserer VHS in der MüGa“ in der Presse hinreichend dokumentiert wurde? Weiterhin waren sowohl der Polizeipräsident Essen/Mülheim, Frank Richter, der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen und die Leitung des Mülheimer Stadtarchivs nicht im Geringsten verunsichert, sich mit Frau Ketzer anlässlich der jeweiligen Eröffnung der Ausstellung in der Polizeiinspektion Mülheim, dem Essener Polizeipräsidium sowie im Haus der Stadtgeschichte offiziell für die Presse zusammen mit Frau Ketzer ablichten zu lassen.
- Als Konsequenz aus der von der Realschule Stadtmitte inkriminierten Parteizugehörigkeit wäre auch die (kürzlich verstorbene) Vorsitzende des Internationalen Auschwitz Komitees, die jüdische Künstlerin und KZ-Überlebende des Mädchenorchesters Auschwitz, Esther Bejarano, als jemand mit dieser „verunsichernden“ Parteizugehörigkeit (DKP) persona non grata. Sie dürfte in der Realschule Stadtmitte nicht reden über ihr (Über)leben im Deutschland des Naziterrors, sie dürfte zu den jungen Menschen nicht sprechen über den Widerstand der Demokraten jedweder politischen Couleur gegen den Faschismus, sie dürfte nicht mahnen angesichts der heute wieder aktuellen Gefahr des Erstarkens faschistischer Tendenzen.
- Die Realschule Stadtmitte war 2004 die erste Schule, die mit einer Arbeitsgemeinschaft die Verlegung der Stolpersteine in Mülheim aktiv vorangebracht hat. Unter den Personen, an die auf diese Weise erinnert wird, waren auch etliche mit »verunsichernder Parteizugehörigkeit«. Möchte man sich jetzt von diesen distanzieren? Als Zeitzeugen willkommen wären sie heute anscheinend nicht …
Gegenwärtig erleben wir eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung; rechtspopulistisches und rechtsextremes Gedankengut dringt teilweise bis in die Mitte unserer Gesellschaft vor. Umso wichtiger ist es, sich aktiv dafür einzusetzen, dass Ausgrenzung und Intoleranz sich nicht ausbreiten.
Doch eben dieses Gebaren von Intoleranz und Ausgrenzung scheint im geschilderten Fall zumindest in Ansätzen sichtbar zu werden. Ohne über die Ursachen und Hintergründe dieses Verhaltens Vermutungen anstellen zu wollen, konstatiert die VVN-BdA Mülheim mit Betroffenheit und Besorgnis, dass zurzeit im dargelegten Fall ein vertrauensvolles Zusammenwirken in demokratischem Konsens nicht gegeben zu sein scheint. Mit Bedauern sehen wir uns deshalb veranlasst, die Ausstellung abzubauen.
Mit freundlichen Grüßen,
Silvia Rölle (Vorsitzende)