Der oberste Militär der Armee Kiews, Waleri Saluschni, lässt sich am 1. Januar 2023 vor einem Porträt Stepan Banderas ablichten. In Kiew und anderen Städten der Ukraine findet am gleichen Tag der traditionelle Fackelumzug von Faschisten zum Geburtstag ihres Idols statt. Am 21. Juni berichtet die „Frankfurter Rundschau“, dass Militärgeheimdienstchef Kirill Budanow, der nach eigener Aussage Russen überall auf der Welt umbringen will, verkündet: „Jetzt wird in der Ukraine eine Sondereinheit unsterblicher Kommandeure geschaffen – Waleri Saluschni, ich, Stepan Bandera, Simon Petljura, Iwan Mazepa.“ Im kanadischen Parlament applaudierte Wladimir Selenski am 22. September einem ukrainischen SS-Veteranen.
In Kiew aber, so Bundesregierung und angeschlossene Medien, gibt es keine einflussreichen Faschisten. Und Bandera, der mehr als 40 Denkmäler in Kiews Machtbereich erhielt? War kein Nazi, schließlich arbeitete er seit 1945 für „westliche Werte“ und wurde 1959 vom KGB in München umgebracht. Mehr Demokrat ist kaum vorstellbar. Kein deutscher Minister unterlässt es, bei Gelegenheit den bewusst nach Vorbild des „deutschen Grußes“ vom Polen- und Judenmörder Bandera in den 1930ern eingeführten Faschistengruß „Slawa Ukraini!“ auszurufen. Die „Zeitenwende“ verlangt das Bekenntnis zur Vernichtung.
Der Frage, wer Bandera war und welche Rolle seine Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) nach seinem Tod im Westen und seit dem Ende der Sowjetunion in der Ukraine spielt, widmete sich am 29. Oktober eine Konferenz der Tageszeitung „junge Welt“ in Berlin. Aus den USA waren mit Moss Robeson und Russ Bellant zwei Experten gekommen, die versuchen, das OUN-Netzwerk ans Licht zu ziehen, Jürgen Lloyd (Marx-Engels-Stiftung) sprach zum Thema „Kompromisslose Durchsetzung der Maximalinteressen des Monopolkapitals. Zur Funktion des Faschismus im Ukraine-Krieg.“ Rund 250 Zuhörer folgten den Vorträgen und der abschließenden Podiumsdiskussion im ausverkauften Münzenberg-Saal des ND-Gebäudes, den Livestream verfolgten mehr als 6.000 Nutzer, davon rund 600 permanent. Unter ihnen waren etwa 1.000 aus englischsprachigen Ländern.
Robeson, der zwei Vorträge hielt, beschäftigte sich zunächst mit der Geschichte des „Führers“ (Prowidnik) und seiner Organisation seit den 1930er Jahren. Er blätterte eine Chronik von Mordlust, Fanatismus und schließlich Judenvernichtung bei Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion auf. Da Hitler anders als in der Slowakei und in Kroatien keinen ukrainischen Satellitenstaat wünschte, kam es zu Differenzen, als Banderas Stellvertreter Jaroslaw Stezko am 30. Juni in Lwow diesen ausrief und sich bei Hitler dafür bedankte. Die Dankpassage wurde später gestrichen, als Stezko Nachfolger Banderas im Westen wurde. Nach „Ehrenhaft“ im Konzentrationslager Sachsenhausen bot Bandera ab Ende 1944 die Dienste seiner Truppen, die gerade rund 100.000 Polen und vor den Deutschen geflohene Juden in Ostpolen ermordet hatten, seine Dienste den Nazis im Kampf gegen die Rote Armee an, ließ die OUN-Dokumente „demokratisch“ von Antisemitismus auf Antikommunismus umfrisieren und tauchte 1945 in Diensten der USA in München auf. Er hielt einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion für nötig und mordete weiter: Wer aus der Community missliebig wurde, verschwand oft spurlos. Eindrucksvoll legte Robeson im zweiten Referat dar, wie die USA und Britannien nach 1945 ein internationales Netzwerk von faschistischen Mördertruppen aus ganz Osteuropa am Leben hielten. Bellant resümierte: Faktisch machte das Bündnissystem der Nazis weiter – es kämpfte in Lateinamerika und in Afrika gegen linke Revolutionäre, trainierte schwedische Faschisten und machte mit der Moon-Sekte gemeinsame Sache. 1985 der damalige OUN-Chef zu Bellant: „Wir haben die US-Regierung durchsetzt.“ Das Ziel, die Ukraine zu nazifizieren, hätten die USA nie aus den Augen verloren.
Lloyd verwies darauf, dass es in der Westukraine dem beherrschenden bürgerlichen Nationalismus gelungen ist, in der Bevölkerung Akzeptanz für faschistische Kräfte durchzusetzen. Die Attacken auf Selenski wegen angeblicher Kapitulationsbereitschaft zeigten, dass es um Kompromisslosigkeit staatlichen Handelns gehe. Lloyd schlussfolgerte: Nicht die verhetzte Massenbasis sei die Ursache für faschistische Gefahr, sondern die auf „äußerste Rigorosität drängende herrschende Klasse“. Im Fall der Ukraine sei das der Westen, der seit 2014 jede Entspannung im Verhältnis zu Russland ablehnt. Generell seien im Monopolkapital „alle Gründe für Faschismus vorhanden“.
Thema der Podiumsdiskussion war vor allem die weltpolitische Einordnung des Geschehens. Videos der Konferenzbeiträge werden auf der Internetseite der „jungen Welt“ nach und nach veröffentlicht.