Michael Lüders hat es wieder getan. Der studierte Politik- und Islamwissenschaftler, jahrelang Nahostkorrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“, hat sich erneut dem betreuten Denken entzogen, das die Apologeten des deutschen Regierungspfuschs so lieben und fördern. In seinem jüngsten Buch „Moral über alles?“ hat er die deutsche Politikerkaste attackiert, die zum Schaden des Landes an moralischen Narrativen eine vernünftige, interessengeleitete Wirtschafts- und Außenpolitik entgleisen lässt. Er hat für einen Moment aufklärerischer Besinnung gesorgt. Das ist heutzutage viel! Chapeau!
Lüders zitiert Egon Bahr: „Wenn ein Politiker anfängt, über Werte zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Raum zu verlassen.“ Das kann der kritische Analyst natürlich nicht tun. Er bleibt präsent und prüft die vollmundigen Ausrufe deutscher Staatenlenker – „Zeitenwende“, „wertegeleitete Politik-Agenda“, „regelbasierte, feministische Außenpolitik“, „Deutsche Kriegsertüchtigung“, Boykotteifer zur „Ruinierung Russlands“, Xi als Diktator eines „totalitären Chinas“ und so weiter – auf inneren Widersinn und auf Tauglichkeit in der Realpolitik. Wären Eiferer nicht selektive Zuhörer, müsste der Befund für die Maulhelden niederschmetternd sein. Vor allem die Doppelstandards des kollektiven Westens bei der Zumessung moralischer Werte verärgern die geschulmeisterte Welt. Die Neigung des US-geführten Blocks, beim Verfolg egoistischer Interessen auf die eigenen Moralpostulate zu pfeifen, ist eine schmerzhafte, oft blutige Erfahrung an vielen Orten der Erde. Das verstärkt über den Globalen Süden hinaus die Skepsis vor den Heilsversprechen der derangierten Pax americana. Und es schürt die Abneigung gegen deren Missionarsriege mit der polternden Annalena Baerbock an der Spitze.
Lüders beschreibt, wie antirussische Sanktionen denen schaden, die sie verhängen, und sieht Deutschland als großen Verlierer. „Die Aufkündigung der Energiepartnerschaft, die länger als ein halbes Jahrhundert Bestand hatte und die hiesige Industrie zuverlässig mit günstiger Energie versorgte“, habe sich als fatal erwiesen. Sanktionen im Energiesektor, die Russland eher stärkten als schwächten, hatten zur Verknappung, folglich Verteuerung der Rohstoffe geführt. Leidtragende blieben europäische Firmen und Haushalte. Die Nord-Stream-Pipelines zerstört, kann Amerika den Boykotteuren auf dem alten Kontinent sein schmutziges Fracking-Gas überteuert andrehen und zugleich in den USA Energie für europäische Firmen so billig anbieten, dass einige den Umzug vollzogen haben oder ihn erwägen. Washingtons Rivale Deutschland also in der Falle provozierter Deindustrialisierung? Lüders beschreibt, wie nationale Interessen im Windschatten der NATO zerflattern und bejaht die im medialen Mainstream tabuisierte Frage, ob der Westen eine Mitschuld am Ukraine-Krieg trägt. Er gibt zu bedenken, dass die 67 Milliarden Euro, die die EU der Ukraine allein im ersten Kriegsjahr an Hilfszuwendungen gewährte, „quasi Geschenke“ sind, während die „professioneller“ agierenden USA ihre 68 Milliarden US-Dollar auf der Basis eines „Leih- und Pachtgesetzes zur Verteidigung der Demokratie in der Ukraine“ überwiegend als Darlehen ausreichten. Auf diese Weise hatten die USA seit 1941 auch die Kriegsfinanzierung Großbritanniens betrieben, wofür London die letzte Tilgungsrate im Dezember 2006 überwies.
Europäische Unterwerfung verlangt Washington auch bei seinem Versuch, den Aufstieg Chinas zur führenden Weltmacht zu verhindern. Der amerikanische Drang zum Handelskrieg kollidiert mit den Wirtschaftsinteressen Deutschlands. Die Volksrepublik war 2022 unser wichtigster Handelspartner. Dagegen Baerbock im Chor mit Habeck und Lindner: Deutschland müsse seine wirtschaftliche Abhängigkeit von China dringend verringern. Das nennt sich deutscher Realitätssinn. Lüders will noch glauben, dass solche moralischen Plädoyers zuweilen von subjektiv ehrlichen Posaunisten geblasen werden. Dann hätte die irgendwann das Schicksal Julian Assanges berühren müssen. Bleiben wir klar: Moral ist die Tarnkappe für ein deutsches Politikdesaster, das nationale Interessen aus Gesinnungstreue zur imperialistischen Zentralmacht preisgibt.