Der Machtkampf zwischen den Flügeln der gespaltenen Regierungspartei „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) könnte in Bolivien bei den Wahlen im kommenden Jahr zur Niederlage des progressiven Lagers führen. In den vergangenen Tagen spitzte sich der Konflikt zwischen dessen Anführern, Staatschef Luis Arce und dem im November 2019 von rechten Putschisten gestürzten ehemaligen Präsidenten Evo Morales, weiter zu.
Am 14. November entzog das von Arce-Anhängern dominierte Verfassungsgericht Morales den Vorsitz der von ihm vor 26 Jahren gegründeten Partei. Zuvor hatte das Gericht Morales bereits untersagt, bei den für 2025 angesetzten Wahlen als Präsidentschaftskandidat gegen Arce anzutreten. Morales erkennt beide Entscheidungen nicht an. Für diesen Freitag ruft er seine Anhänger und Vertreter sozialer Bewegungen zu einem Treffen in der Stadt Lauca Eñe in Cochabamba auf. Dort werde „über die Zukunft, den Kampf und den Widerstand entschieden“, kündigte er im Radiosender „Kawsachun Coca“ an.
Die Regierung geht vorsorglich bereits juristisch gegen Anhänger von Morales vor. Prominente Unterstützer, darunter der Indigenenvertreter Ramiro Cucho und der Bauernführer Humberto Claros, wurden eine Woche nach Ende der 24-tägigen Straßenblockaden der „Evistas“ verhaftet. Das marxistische „Movimiento Guevarista“ meldete während der am 6. November beendeten Aktionen mindestens 120 Festnahmen. Am Samstag bestätigte Innenminister Eduardo del Castillo, dass sowohl der Exekutivsekretär der Landarbeiter- und Kleinbauerngewerkschaft CSUTCB, Ponciano Santos, als auch Juan Ramón Quintana, der Minister der Präsidentschaft in den drei Regierungen unter Evo Morales, per Haftbefehl gesucht werden. Santos hatte Arce in einem Aufruf zur Teilnahme an den Blockaden als „Verräter“ und „Marionette des Imperiums“ bezeichnet.
Quintana hatte bereits 2022 als Redner auf der von der Tageszeitung „junge Welt“ organisierten Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin darauf hingewiesen, dass der 2019 erfolgte Putsch gegen Morales und die MAS von langer Hand geplant gewesen sei. Er müsse als Reaktion auf die „Hegemoniekrise des globalen Kapitalismus“ verstanden werden. Vom ersten Tag der Regierungsperiode der MAS an habe die bolivianische Oligarchie Hand in Hand mit Washington eine „große imperiale Offensive“ in Gang gesetzt. Der Staatsstreich sei nur das letzte Mittel des US-Interventionismus gewesen, so Quintana.
Den jetzt von Arces Polizei Verhafteten und Quintana werden kurioserweise unter anderem Terrorismus, Aufstachelung zu kriminellen Handlungen und bewaffneter Aufstand vorgeworfen. Morales verurteilte die „illegalen und willkürlichen“ Festnahmen und erklärte, dass seine Anhänger „ihrer Freiheit beraubt werden, weil sie soziale Proteste anführten“. Die Guevaristische Bewegung Boliviens rief „linke Organisationen und die internationale Gemeinschaft“ auf, „nicht zuzulassen“, dass „dieses Regime die Stimme des Volkes zum Schweigen bringt“. Um „die Putscherfahrung von 2019 nicht zu wiederholen, müssen wir uns an die Gründe für den blutigen Staatsstreich erinnern“, so die Organisation. Der wichtigste sei, dass das Land mit rund 21 Millionen Tonnen über die größten Lithiumvorkommen der Welt verfüge. Nachdem Bolivien im Oktober als Partnerland in die BRICS-Gruppe aufgenommen wurde, kooperiere die Arce-Regierung bei deren Abbau und Verarbeitung zwar mit Russland und China, verfolge zugleich aber eine Doppelstrategie, die einen späteren Zugriff der USA auf Ressourcen nicht ausschließe, warnt Cynthia Cisneros Fajardo, die bis 2019 der Regierung von Morales angehörte, im Onlineportal „Rebelión“.
In einer durch sinkende Einnahmen aus Öl- und Gasexporten verursachten Krise, die zum Mangel an Devisen, Treibstoff und Nahrungsmitteln und zunehmenden sozialen Konflikten führt, offenbare der Machtkampf zwischen den Lagern des „Pragmatikers“ Arce und des kompromisslosen „Kapitalismuskritikers“ Morales in der rund eine Million Mitglieder zählenden Partei ein ideologisches Vakuum, das sie schwächt und ihre Basis demobilisiert, stellt Milton Machuca Cortez, ein Professor an der UCB-Universität in Cochabamba, in einem Beitrag für „Rebelión“ fest. Die fehlende ideologische Orientierung der MAS habe zu einer Schwächung geführt, die ihre Rolle als Transformationskraft untergrabe. Der Autor des Werkes „Sozialismus in Bolivien“ erinnert an ein Argument von Antonio Gramsci, wonach ein historischer Block seine Hegemonie verliert, wenn er die Interessen seiner sozialen Basis nicht mehr vertreten oder ein glaubwürdiges Zukunftsprojekt präsentieren kann. Die MAS konnte zwar den Einfluss der neoliberalen Parteien zurückdrängen, rechten Putschisten Niederlagen zufügen und ein progressives plurinationales Projekt auf den Weg bringen, aber wurde nie zur revolutionären Avantgarde mit einer klaren politischen Linie im leninistischen Sinne. Ob der Zerfallsprozess der aus gewerkschaftlichen und unterschiedlichen anderen sozialen Bewegungen entstandenen MAS noch abzuwenden ist, wird angesichts der zunehmenden Verfolgung innerparteilicher Kontrahenten von Tag zu Tag unwahrscheinlicher.