Die ersten Tage unserer Delegationsreise in China verbringen wir mit Konferenzen und Treffen in Peking. Danach geht es für uns weiter nach Shenyang in der Provinz Liaoning im Nordosten Chinas. Liaoning ist so etwas wie das Ruhrgebiet Chinas: Es war lange Zeit die Industriebasis Chinas, hat eine schmerzhafte Phase der Deindustrialisierung hinter sich und wurde in den letzten Jahrzehnten revitalisiert. Es gilt heute als eine Vorzeigeprovinz, in der Xi Jinpings Idee von der chinesischen Modernisierung verwirklicht werden soll: Die Provinz Liaoning hat in den letzten fünf Quartalen das höchste Wirtschaftswachstum des Landes erreicht. Ein Professor der Parteischule von Liaoning berichtet uns bei unserem Empfang in der Provinz, dass man auf eine qualitativ hochwertige und grüne Entwicklung mit Fokus auf die Menschen setze. In der Provinz haben wir auch die Möglichkeit, eine Nachbarschaft zu besichtigen: Die Gemeinschaft „Päonie“ im Bezirk Huanggu, in der mehr als 10.000 Menschen in rund 3.000 Haushalten leben. Die Nachbarschaft wurde, wie uns dort erzählt wird, ebenso wie viele andere Nachbarschaften grundsätzlich modernisiert. Davon zeugen Fotos: Wo vorher marode Gebäude standen, steht nun ein hochmodernes Nachbarschaftszentrum, wo ein trister Platz war, ist nun eine grüne Fußgängerzone. Unterstützt wurde das Projekt durch zahlreiche lokale Firmen. Im Nachbarschaftszentrum gibt es kostenlose Angebote für Kinder wie Malen, Tanzen oder verschiedene Sportarten. Auch für Erwachsene gibt es selbstorganisierte Kurse, das Können einer ausgezeichneten Blasmusikgruppe wird uns präsentiert. Die Kurse können nur deshalb angeboten werden, weil die Freiwilligenarbeit in der Nachbarschaft eine große Rolle spielt – einmal im Monat gibt es sogar einen Tag der Freiwilligenarbeit, bei der man sich unterstützt und beispielsweise gegenseitig die Haare schneidet. Für Menschen über 60 zahlt zusätzlich die Regierung Pflegeleistungen im Wert von drei Stunden im Monat.
Die Partei leitet
Ebenfalls in Liaoning, in der Stadt Shenyang, besichtigen wir die staatliche Fangda-Gruppe und die, so wird uns berichtet, überwiegend private Tochter Northern Heavy Industries Group (NHI, größter Anteilseigner ist mit 42 Prozent die Fangda Gruppe). NHI ist eins der 500 größten Unternehmen Chinas und baut unter anderem Maschinen für Bergbau und Kraftwerke, die Fangda Group ist in mehreren Bereichen Marktführer. Beide Firmen sind international tätig. Maßgabe dafür seien keine politischen Vorgaben, sondern die Maximierung des Geschäfts.
Kürzlich gab es, wie in vielen staatlichen Unternehmen (SOE, State-Owned Enterprises), größere Umstrukturierungen, um die Effizienz zu erhöhen – unter anderem nach dem Vorbild Singapurs. Wie in anderen Unternehmen sei der Einfluss des Staates gering, stattdessen folgt das Unternehmen den Gesetzen des Marktes. Der Fokus unseres Austauschs mit den Parteisekretären, die zugleich die Manager der Firma sind, liegt jedoch auf der Rolle der KPCh im Unternehmen, die allein bei NHI mehr als 50 Basisgruppen hat.
Aktuell legt die KPCh den Fokus auf den Parteiaufbau. Dafür brauche es mehr Parteisekretäre, eine Stärkung der Parteidisziplin und einen Schwerpunkt auf die Basisgruppen. Die Ideologie der Partei werde genutzt, um die Firma zu leiten und ihre qualitativ hochwertige Entwicklung im Sinne der Modernisierung Chinas voranzutreiben. Auf die Rückfrage eines Mitglieds der Delegation, ob auch unterschiedliche Meinungen zwischen Management und Partei bestehen, antwortet uns der Parteisekretär: „Wir nutzen die Richtung der Partei, um das Unternehmen zu leiten. Die Partei ist in der Lage, das Land wirtschaftlich zu entwickeln, deshalb folgt das Unternehmen ihr. Obwohl das Unternehmen ein privates Unternehmen ist, ist es ein Unternehmen der Gesellschaft und für die Angestellten. Es gibt keine unterschiedlichen Positionen zwischen Unternehmen und Partei.“ Zum Verhältnis zwischen Unternehmen und Angestellten führt er aus: „Die Löhne für die Angestellten werden regelmäßig erhöht. Deshalb sind die Angestellten auch bereit, die Probleme mit dem Unternehmen zu teilen, wenn es auf dem Markt Probleme gibt. Beim Abschwung des Marktes zahlen die Angestellten ihre Dienstreisen freiwillig selbst und verzichten auf Gehalt. Das ist der Grund, warum ich sage, dass es keinen Widerspruch zwischen Arbeitern und Unternehmen gibt.“ Dieser Punkt ist den Genossen sehr wichtig. Auch der Stellvertretende Parteisekretär unterstreicht, dass kein Gegensatz, sondern Harmonie zwischen Kapital und Arbeit bestehe.
Unternehmen im Sozialismus
Die Diskussion über das Verhältnis von Unternehmen zu Arbeitern, über die Rolle der privaten und staatlichen Unternehmen in der Gesellschaft setzt sich im Bus fort. Ein Genosse der Internationalen Abteilung erzählt uns, dass zur Rolle von Unternehmern im Sozialismus, zur Weiterentwicklung der Werttheorie gerade viel geforscht und diskutiert werde: So sei der Begriff „Ausbeutung“ für uns Marxisten ein Schlüsselbegriff, um zu verstehen, warum der Kapitalismus überwunden werden muss. Innerhalb des Sozialismus seien hier aber neue Elemente zu berücksichtigen. „Unternehmertum kann nicht bloß als Ausbeutung verstanden werden. Unternehmer arbeiten, sie nehmen Risiken in Kauf, sie brauchen umfassende Bildung und Mut.“ Ähnlich spielten auch Aktienbesitzer im Sozialismus eine wichtige Rolle.
Sowohl in Liaoning als auch bei unserem nächsten Stopp in der Provinz Zhejiang, an der Ostküste südlich von Shanghai, legt die Partei großen Wert darauf, das Bruttoinlandsprodukt zu steigern und die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Dazu versuche man, neue Unternehmen anzuziehen. Staatliche und private Unternehmen ergänzten sich dabei, erklärt uns ein Mitarbeiter der internationalen Abteilung: So würden die staatlichen Unternehmen durch die privaten dazu gezwungen, effizient und wettbewerbsfähig zu sein.
Zugleich sei es nicht möglich, alles durch private Unternehmen zu organisieren. So sei der Bau der High-Speed-Züge in China nicht ausreichend profitabel, um ihn durch Privatunternehmen zu organisieren. Bestimmte Bereiche, wie zum Beispiel Wasser, sollten zudem ausschließlich staatlich organisiert sein. Der Erfolg sowohl privater als auch staatlicher Unternehmen werde am Profit gemessen. Der Genosse der Internationalen Abteilung erklärt uns weiter, wie die seit Deng Xiaoping neu entstandenen Ungleichheiten in China beseitigt werden sollen, nachzulesen in seinen ausgewählten Werken: „Deng Xiaoping hat gesagt, dass wir es Leuten ermöglichen und sie dazu motivieren sollten, als erstes reich zu werden. Diese Menschen können dann helfen, die Armut zu reduzieren. Das versuchen wir über drei Wege: Erstens Erhöhung der Löhne, zweitens Umverteilung durch den Staat und drittens Charity der Unternehmen. Dieser Prozess ist ein fortlaufender Prozess.“
Unsichtbare und sichtbare Hand
Entsprechend erklärte auch der Professor der Akademie für Marxismus, dass der Klassenwiderspruch nicht mehr der Hauptwiderspruch in der chinesischen Gesellschaft sei. Für die KPCh ist vielmehr das Ziel, das Land zu modernisieren, den Sozialismus chinesischer Prägung einer neuen Ära weiter aufzubauen und die Reform und Öffnung zu vertiefen, die Deng Xiaoping 1978 begonnen hat. Sozialismus chinesischer Prägung, so erläutert ein Genosse der Internationalen Abteilung, das meint die konkrete Anwendung des Sozialismus auf die Volksrepublik China seit Deng Xiaoping. Sozialismus chinesischer Prägung, das bedeute die Kombination von Sozialismus und Marktwirtschaft, die Öffnung bei gleichzeitiger Beibehaltung der Unabhängigkeit. Bei dessen Entwicklung habe man sich weniger an der NÖP orientiert, mehr an marktsozialistischen Ideen beispielsweise des polnischen Ökonomen Oskar Lange und an Jugoslawien. Einer der führenden Professoren in chinesischer Ökonomie vertrete, dass China mit der Reform und Öffnung von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft übergegangen sei, in der Entscheidungen durch Unternehmen getroffen würden und die Verteilung durch die unsichtbare Hand des Marktes vollzogen werde. Die Rolle der Regierung sei in diesem Zusammenhang, die Unternehmen darin zu beraten, wie der Markt aussehe, und einen stabilen Markt zu garantieren.
Ein viel genutztes Bild zur Veranschaulichung des Verhältnisses von Staat und Unternehmen seien Vögel in einem Käfig: Die Vögel (Unternehmen) können fliegen (Entscheidungen treffen), aber nur innerhalb des Käfigs (innerhalb des staatlichen Rahmens). Zu viele Restriktionen schadeten der Wirtschaft, zu wenig Restriktionen würden dazu führen, dass die Wirtschaft in Unordnung gerät. Unser Gesprächspartner erklärt uns, dass sich dieses Verständnis auch in den Bezeichnungen ausdrückt: Die heutigen Wirtschaftspläne werden anders genannt als zu Zeiten der Planwirtschaft – der neue Begriff sei besser mit „Programm“ zu übersetzen, ein Plan mache zu enge Vorgaben, ein Programm hingegen sei allgemeiner und flexibler.
Offene Fragen
Fragen nach dem Verhältnis von Markt und Plan, nach der Rolle der Privatunternehmen begleiten die gesamte Reise, fast jede unserer Konferenzen. Ein Mitarbeiter der Internationalen Abteilung stellt klar, dass es keine Frage sei, dass man zum Kommunismus voranschreiten wolle. Dieser sehe aber anders aus als von Marx und Engels beschrieben – ob und wann man Privateigentum abschaffe, sei unklar, nun gehe es darum, die Reform und Öffnung zu vertiefen und die Rolle der Privaten weiter zu stärken. Angst vor einem Wiedererstarken der kapitalistischen Kräfte habe man derzeit nicht. Die Hauptgefahr bestehe aus Sicht der KPCh seit Deng Xiaoping im linken Opportunismus, konkret in der Kritik am Kurs der Reform und Öffnung – so ist es sogar im Parteistatut festgehalten.
Die Entwicklung der Volksrepublik China kann nicht in elf Tagen verstanden werden, sie wird weiter zu beobachten und zu analysieren sein. In den elf Tagen hatte ich jedoch die Chance, drei chinesische Städte zumindest etwas kennenzulernen, einen kleinen Einblick in die beeindruckende technologische Entwicklung und in die Veränderung des Lebens der Chinesinnen und Chinesen zu erhalten, die Positionen und Analysen der KPCh etwas besser zu verstehen. Ich habe viel Gastfreundschaft, Offenheit und Auskunftsbereitschaft erlebt. Viele Fragen wurden beantwortet, viele neue Fragen sind entstanden – nach der Rolle der Privaten und ihrer Abschaffung, nach der Bewertung von Klassenwidersprüchen, nach der Entwicklung der Partei.