Zur Aberkennung des Europäischen Dramatik-Preises für Caryl Churchill und was das mit Rassismus zu tun hat

Moderner McCarthyismus

Mit Fassungslosigkeit reagierten 170 britische Künstler in einem offenen Brief auf die Aberkennung des Europäischen Dramatiker:innen-Preises an Caryl Churchill:

„Wir sind empört, dass die Ehrung für das Lebenswerk, die der Dramatikerin Caryl Churchill im Rahmen des Europäischen Drama Preises 2022 verliehen wurde, von der Jury des Schauspiels Stuttgart mit der Begründung aberkannt wurde, dass Churchill die gewaltfreie Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) gegen das israelische Apartheidsystem unterstützt. (…) Dieser Angriff auf die Gewissensfreiheit ist nichts geringeres als moderner McCarthyismus und wirft dringende Fragen über ein Muster der Einschüchterung und des Schweigens in Deutschland und darüber hinaus auf. (…) Diese Unterdrückung und das Schweigen lassen auf einen tiefsitzenden antipalästinensischen Rassismus schließen (…) Wenn die einzigen Kunstformen, die als ‚sicher’ für Institutionen gelten, jene sind, die den Enteigneten und Unterdrückten dieser Erde nichts zu sagen haben und die angesichts staatlich sanktionierter Unterdrückung schweigen, dann werden Kunst und Kultur ihrer Bedeutung und ihres Wertes beraubt.“

In ihrer Stellungnahme hatte die Jury die Aberkennung des Preises nicht nur mit Churchills Unterstützung der BDS, sondern auch mit ihrem Theaterstück „Seven Jewish Children: A Play for Gaza“ (Sieben jüdische Kinder: Ein Stück für Gaza) begründet. Die Dramatikerin verfasste diesen kurzen Text 2009 nach Israels Angriff auf Gaza, bei dem laut Amnesty International „1.400 Palästinenser getötet worden, darunter 300 Kinder und Hunderte von unbewaffneten Zivilisten. Große Bereiche des Gazastreifens waren dem Erdboden gleichgemacht worden.“

Worum geht es in dem der Form nach sehr ungewöhnlichen Stück, das auch als Gedicht in freien Versen aufgefasst werden könnte? In sieben verschieden langen Teilen hört man Stimmen Erwachsener darüber, was einer kleinen Tochter gesagt werden darf und was nicht.
Diese Antworten auf ungehörte Fragen eines Kindes erinnern an das Frage-und-Antwort-Ritual des Pessachfestes, bei dem der Gründungsmythos der Judenheit an neue Generationen weitergegeben wird. In ironischer Übertragung entsteht vor diesem der Bogen über die Verfolgung der Juden während der Shoah zur Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat. Ein zusätzlicher Gründungsmythos wird verfasst.

Nahezu alle Sätze des Stückes beginnen mit „Sag ihr“ beziehungsweise „Sag ihr nicht“. Sieben Abschnitte beleuchten den Zeitraum von der Shoah bis zur Gegenwart. Die Bezüge sind nur angedeutet, doch begreift das Publikum schnell, um welche historische Situation es jeweils geht. Der erste Abschnitt beginnt: „Sag ihr, es ist ein Spiel/Sag ihr, es ist ernst/Aber ängstige sie nicht/Sag ihr nicht, sie würden sie töten/Sag ihr, es ist wichtig, still zu sein.“ Tödlicher Ernst vermischt sich mit größter zärtlicher Sorge um das psychische wie physische Wohlergehen des Kindes in der faschistischen Nacht. Nach der Shoah geht es darum, wie man dem Kind die Geschichte mitteilen kann: „Sag ihr, das ist ein Foto von ihrer Großmutter, ihren Onkeln und mir/Sag ihr, ihre Onkel sind gestorben/Sag ihr nicht, dass sie getötet wurden/Sag ihr, sie wurden getötet/Ängstige sie nicht.“ Im dritten Abschnitt wird die Übersiedlung in das (unbenannte) vorstaatliche Israel thematisiert: „Sag ihr, es ist sonnig dort/Sag ihr, wir gehen nach Hause/Sag ihr, es ist das Land, das Gott uns gab“. Der vierte Teil richtet das Augenmerk auf die Vertreibung der (unbenannten) Palästinenser: „Sag ihr nicht, sie gehen nach Hause, nicht nach Hause, sag ihr, sie gehen weg/Sag ihr nicht, sie mögen sie nicht/Sag ihr, sie soll vorsichtig sein./Sag ihr nicht, wer vorher in diesem Haus wohnte.“ Während in diesen ersten vier Abschnitten ein unsicherer Ton herrschte, findet sich im sehr kurzen fünften Abschnitt ein neuer Ton, eine veränderte Einstellung auch zur erzählten (beziehungsweise nicht erzählten) Geschichte, die Wende zum Einmarsch in Gaza: „Sag ihr, wir haben gewonnen/Sag ihr, ihr Bruder ist ein Held/Sag ihr, wie groß ihre Armeen sind/Sag ihr, wir haben sie zurückgeschlagen/Sag ihr, wir sind Kämpfer/Sag ihr, wir haben neues Land.“ Größeres Bewusstsein eines Unrechts kehrt in Abschnitt sechs zurück. Hier dominieren zunächst die „Sag ihr nicht“ Sätze über Wasser, Bulldozer (Zerstörung), Olivenbäume, einen erschossenen Jungen, die auch ansteigende Gewalt gegen die Palästinenser zum Ausdruck bringen. Die „Sag ihr“-Sätze der zweiten Hälfte des sechsten Abschnitts vertiefen die Lügen, die das Kind als seine Identität serviert bekommt: „Sag ihr, dass wir stärker sind/Sag ihr, dass wir Anspruch haben/Sag ihr, sie verstehen nichts außer Gewalt/Sag ihr, wir wollen Frieden/Sag ihr, dass wir schwimmen gehen.“ Der siebte und letzte Abschnitt ist der längste und überrascht mit dem Übergang von freien Versen zu Prosa, nach der Äußerung auch von Zweifeln sowie Ängsten, erstmals sogar von passivem Widerstand, zu militant zionistischen Positionen: „Sag ihr nicht, dass ihr Cousin sich weigerte, in der Armee zu dienen./Sag ihr nicht, wie viele von ihnen getötet wurden.“ (…) Sag ihr, wir sind jetzt die eiserne Faust (…) sag ihr, wir werden nicht aufhören, sie zu töten, bis wir in Sicherheit sind, sag ihr, ich habe gelacht, als ich die toten Polizisten sah, sag ihr, sie sind Tiere, die in Trümmern leben, sag ihr, es ist mir egal, wenn wir sie auslöschten“. Hier erreicht die Entmenschung der Stimmen und die Zerstörung der Unschuld des Kindes ihren Höhepunkt. Dies wird in den letzten drei Zeilen des Stückes etwas relativiert: „Sag ihr das nicht. Sag ihr, dass wir sie lieben. Ängstige sie nicht.“ Angst vor den Eltern? Ermutigend ist allein die Tatsache, dass das Mädchen diese Fragen stellt – und dass es eine/n Cousin/e hat, deren/dessen Zweifel bis ins Erwachsenenalter erhalten blieben. Hoffnung auf Menschlichkeit.

Dieses Stück, das Churchill anlässlich eines der berüchtigtsten israelischen Angriffe auf Gaza schrieb, ist natürlich nicht auf Israel beschränkt, sondern verallgemeinerbar auf alle Situationen, in denen die Eltern (oder der Staat oder die staatlichen Medien), Angreifer, Kriegstreiber, Kolonisatoren, Versklaver ihren Kindern beziehungsweise ihrem Volk die Wirklichkeit zurechtrücken, verschweigen und verklären, ein neues Narrativ erfinden. Was wird berichtet? Was darf man denken, sagen? Wie wird Geschichte, wird eine Legende geschrieben? Warum ist die Wahrheit so unerträglich? Selbst für die Unterdrücker, die die Wahrheit kennen?

Indem man die Realitäten verschweigt, aus der Geschichte nicht lernt entstehen Unterdrückung und Grausamkeit immer wieder aufs Neue. Mitten im sechsten Abschnitt des Stücks sagt eine Stimme: „Sag ihr gar nichts.“ Die Aberkennung des Europäischen Dramatik-Preises an Caryl Churchill muss zu solchen Anstrengungen gezählt werden.
Caryl Churchill gab „Seven Jewish Children“ zum kostenlosen Download und Aufführungsrechte für alle frei mit der Bitte, dass für die Menschen in Gaza gesammelt wird und der Erlös an Medical Aid for Palestine geht.

Deutsche Übersetzungen im Artikel von Jenny Farrell.
„Seven Jewish Children“ ist in englischer Sprache unter
kurzelinks.de/seven downloadbar.

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"Moderner McCarthyismus", UZ vom 2. Dezember 2022



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