Die Serie beginnt damit, dass eine junge mexikanische Punk-Gothic-Frau, Marisol oder Mari, in einer wütenden Botschaft ein Manifest veröffentlicht, in dem sie ihre Bereitschaft erklärt, sich gegen die Verdrängung und Enteignung ihres Viertels Boyle Heights in Los Angeles zu wehren. Boyle Heights kann auf eine lange Geschichte als fortschrittliches Zentrum der Stadt zurückblicken, auf radikale jüdische und japanische Bewohnerinnen und Bewohner. Im Jahr 1949 wählten sie im Viertel den ersten mexikanischen und lateinamerikanischen Stadtrat und späteren Kongressabgeordneten Edward Roybal. Als jüdische Bewohnerinnen und Bewohner des Viertels in der Nachkriegszeit begannen, in gehobenere Gegenden auszuwandern, setzte sich Roybal dafür ein, das Gebiet für die heute überwiegend mexikanische Bevölkerung weiter zu öffnen. Gegenwärtig steht es im Mittelpunkt des Versuchs einer Landnahme durch Wohlhabendere, für die Boyle Heights eine modischere und günstigere Alternative zu den hohen Mieten in Downtown L. A. sind. Vergleichbar – wenn auch billiger – mit dem Verhältnis von Brooklyn zu Manhattan in New York.
Leider verliert „Vida“ in der zweiten und dritten Staffel den Fokus auf soziale Themen und wird zu einer LGBTQ-Telenovela. Das ist jedoch kein Grund, die erste Staffel nicht zu feiern, in der „Vida“ das Problem der Vertreibung von Minderheiten und armen Bevölkerungsgruppen besser angeht als jeder seiner Film- und Fernsehrivalen.
Maris Gruppe, die „Vigilantes“ (Wächter), sind Aktivisten, die umtreibt, wie sich die Nachbarschaft um sie herum verändert. Spekulanten aus dem nahe gelegenen Silver Lake haben ein Auge auf ihr Viertel geworfen.
In dieses Viertel kehren die beiden Schwestern Emma und Lyn Hernandez nach dem Tod ihrer Mutter zurück. Sie wurde „Vida“ (Leben) genannt. Emma und Lyn erben von ihr eine überschuldete Bar, die ein Haupttreffpunkt der LGBTQ-Community des Viertels ist. Während Emma eine knallharte Geschäftsfrau aus Chicago ist, ist Lyn eine vegane Lebefrau mit Hippie-Tendenzen, die sich als naive Mitläuferin in gehobenen Kreisen gefällt. Die Schwestern sind gründlich assimiliert und könnten zu Beginn der Serie nicht weiter von den mexikanischen Wurzeln des Viertel entfernt sein. Bis die Schwestern sich entschließen, Teil der Nachbarschaft zu werden, das Erbe ihrer Mutter anzutreten und die Bar zu übernehmen, dauert es eine ganze erste Staffel. Es geht hierbei eben nicht nur um einen persönlichen Konflikt, sondern um einen Konflikt der Werte. Es geht darum, dass die Schwestern lernen, ihre Wurzeln und eine Kultur der Gemeinschaft als positiven Wert anzunehmen und das, was ihnen von der kapitalistischen und kolonialen Kultur außerhalb des Viertels gelehrt wurde, in Frage zu stellen.
Die Verdrängung aus Stadtvierteln – oder auch Gentrifizierung – war in letzter Zeit ein beliebtes Thema in Film und Fernsehen, einschließlich einer Netflix-Serie, die ebenfalls in Boyle Heights spielt: „Gentefied“. Diese ist viel glitschiger und hipper als „Vida“ und viel weniger wirkungsvoll. Die massenhafte Enteignung der afroamerikanischen und hispanischen Bevölkerung New Yorks ist der Hintergrund, auf dem die Geschichte des Films „Motherless Brooklyn“ spielt.“The Last Black Man“ ist ein nachdenklicher, leiser und trauriger Film, der in San Francisco spielt und in dem es um die Säuberung der Stadt von ihrer armen unteren Mittelschicht geht. Ein Prozess, der durch die ständig steigenden Mieten aufgrund der Nähe zum Silicon Valley vonstatten geht. Aber auch „The Last Black Man“ hat nicht die unmittelbare, spürbare Wirkung von „Vida“.
Der Fernsehsender „Starz“, der „Vida“ in den USA ausstrahlte, ist ein Bezahlsender, der wie seine Konkurrenten versucht, sich durch eine Menge Nacktheit zu behaupten. Zu den in der Serie thematisierten sozialen Problemen kommt, dass ein großer Teil derjenigen, die dort porträtiert werden, derzeit eine wirtschaftliche Misere erleben, der Gewalt von Staat und Milizen ausgesetzt sind und sich in der Pandemie kaum noch die notwendigen Lebensmittel und medizinische Versorgung leisten können – geschweige denn die Kosten für zusätzliche Bezahlsender, die nicht in der ohnehin schon exorbitanten Kabelrechnung enthalten sind.
Übersetzung und Bearbeitung: Lars Mörking
Vida, 2018 – 2020, 3 Staffeln, Amazon Prime