Abschiebung nach Afghanistan? Der NATO-Krieg hat desaströse Folgen

Mit Sicherheit keine Perspektive

Von Matin Baraki

Ist Afghanistan ein sicheres Land, wie einige westeuropäische Regierungen behaupten? Diese Frage kann man nicht eindeutig mit Ja oder Nein beantworten. Denn zum einen ist Sicherheit relativ, zum anderen kommt es darauf an, wie man Sicherheit definiert.

In Afghanistan gibt es im Allgemeinen keine absolute Sicherheit und zwar für niemanden. Ist man gerade am falschen Ort zu einer falschen Zeit, kann man Opfer einer militärischen Auseinandersetzung oder Opfer eines Selbstmordattentates werden. Ziele des Widerstands sind in der Regel politische, militärische und polizeiliche oder mit dem Militär in Verbindung stehende Objekte. So gesehen ist Afghanistan kein sicheres Land.

Aber es gibt Provinzen wie Bamyan (Zentralafghanistan), Herat (im Westen), Panjschir (nördlich von Kabul), Masar-e Scharif (im Norden) und die Hauptstadt Kabul, um nur einige Regionen zu nennen, wo keine militärischen Auseinandersetzungen stattfinden. Dort kann man jeweils von einer sicheren Region sprechen. In Kabul leben inzwischen ca. sieben Millionen Menschen.

Aber was bedeutet diese Sicherheit für einen afghanischen Staatsbürger, der aus dem Osten stammt, den eine europäische Regierung in die westafghanische Stadt Herat oder nach Kabul abzuschieben beabsichtigt? Man könnte mit Fug und Recht sagen, er ist dann faktisch auf sich allein gestellt. Außer, er hat genug Kapital, um sich eine angemessene Existenzgrundlage aufzubauen. Afghanistan ist ein Land mit starker sozialer und familiärer Bindung. Ohne diese Bindung gibt es kaum Sicherheit, vor allem für alleinstehende Personen. Solche Menschen können auch Opfer von kriminellen Personen bzw. Gruppen werden. Oder wenn sie keine andere Möglichkeit für sich sehen, um zu überleben, können sie sich als Söldner bei der einen oder anderen Gruppe anbieten.

Angela Merkels Einladung

„Die Besten der Welt gehören hierher“, sagte einmal die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das war auch der Hintergrund, und nicht etwa Humanität, als sie im September 2015 die Grenzen öffnen ließ. Täglich standen bis zu 8 000 Menschen, die nach Deutschland wollten, in Kabul vor den Passämtern. Während 2012 insgesamt 26 250 Afghanen in Deutschland Asylanträge stellten, darunter 5 675 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, schnellte die Gesamtzahl auf 154 000 meistens junge Menschen im Jahr 2015. Im vergangenen Jahr machten afghanische Jugendliche 47 Prozent aller minderjährigen Asylbewerber aus. Für die deutschen Besatzer haben bis zu 3 000 Afghanen im Auftrage des Auswärtigen Amtes, der Bundeswehr und des Bundesinnenministeriums gearbeitet. „Wir waren Ohren und Augen der Deutschen“, sagte Abdul Sakhizada, der für die Bundeswehr tätig war. Darüber hinaus habe er auch bei Freunden und Nachbarn Informationen für die Bundeswehr gesammelt. Diese „Ohren und Augen“ der Deutschen werden von der afghanischen Bevölkerung als Spione, Kollaborateure und Vaterlandsverräter angesehen. Inzwischen sind sie fast alle in die BRD gebracht worden. Die Regierung in Kabul war dagegen, weil sie als gut ausgebildete Fachkräfte beim Wiederaufbau gebraucht würden. Diese Tatsache wurde in Afghanistan als „Raub der Fachkräfte“ angesehen.

Im Oktober 2016 hat die EU ein Abkommen mit Afghanistan geschlossen. Das Land wird stärker finanziell unterstützt, soll im Gegenzug aber Flüchtlinge zurücknehmen. Es ist geplant etwa 80 000 Afghanen abzuschieben. Auch die Bundesregierung hat ein Rücknahmeabkommen mit Kabul geschlossen. Zurzeit sind 12 539 Afghanen ausreisepflichtig, davon verfügen 11 543 über eine Duldung. Aktuell haben von den 247 000 in Deutschland lebenden Afghanen 6,6 Prozent ein unbefristetes, ca. 23 Prozent ein befristetes Aufenthaltsrecht, und 22 Prozent sind geduldet. Bis September 2016 wurden 27 und am 15. Dezember weitere 34 Afghanen in ihr Heimatland abgeschoben. Unter ihnen waren etwa ein Drittel Straftäter, verurteilt wegen Diebstahls, Raubes, Drogendelikten, Vergewaltigung oder Totschlags. Insgesamt sind im vorigen Jahr 3 320 abgelehnte Asylbewerber „freiwillig“ nach Afghanistan zurückgekehrt.

Die Frage der Asylbewerber wird sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung und Asylorganisationen kontrovers, teilweise sehr emotional und einseitig diskutiert. Man sollte das Problem realistisch und auch aus der Perspektive Afghanistans analysieren. Die Grenze für alle Afghanen zu öffnen, kann auf Dauer weder für das Gastland noch für Afghanistan eine Alternative sein. Wäre die allgemeine unsichere Lage am Hindukusch alleiniger Maßstab, dann müssten ca. 80 Prozent der Afghanen, also rund 28 Mio. Menschen, hierher geholt werden. Darüber hinaus sind seit der Grenzöffnung im September 2015 jene Afghanen eingereist, die zwischen 6 000 und 160 000 Dollar für ihre Einreise nach Deutschland bezahlen konnten.

Hält dieser Prozess an, verbleiben am Hindukusch nur die Armen, Alten, Kranken, Ungebildeten, Warlords, Kriegsverbrecher, Drogenhändler, die Islamisten und eine weitgehend korrupte Regierung. So ein Land hat keine Zukunft.

Fluchtursachen

Die eigentliche Fluchtursache ist der seit 44 Jahre andauernde Bürgerkrieg und die ausländische Intervention, seit 2001 von der NATO unter US-Führung. Die Politik der offenen Tür, die die US-Marionette Hamid Karzai eingeleitet hat, zerstörte die ökonomische Grundlage Afghanistans. Etwa 99 Prozent aller Waren, die auf dem afghanischen Markt zu kaufen sind, kommen aus dem kapitalistischen Ausland.

Dieser Krieg hat auch das soziale Gefüge am Hindukusch zerstört und Warlords, Drogenbarone und Kriminelle produziert. Afghanistan ist ein gescheiterter Staat. Kabul gleicht einem Hochsicherheitsgefängnis. Dennoch können sich nicht einmal die deutschen Diplomaten dort schützen. In Afghanistans Hauptstadt Kabul verwüstete am 31. Mai eine Autobombe das Diplomatenviertel. Es sind 90 Tote und mehr als 500 Verletzte zu beklagen – in unmittelbarer Nähe zu den Botschaften Deutschlands und Frankreichs.

Das seit mehr als einem Jahrzehnt andauernde und Milliarden teure militärische Engagement am Hindukusch ist im Ergebnis ein Desaster. Der US-geführte Krieg gegen Afghanistan hat in den Jahren 2001 bis 2014 nach offiziellen Angaben jede Woche 1,5 Milliarden US-Dollar gekostet. Die Taliban, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington aus Afghanistan vertrieben werden sollten, beherrschen wieder große Teile der Heimat des Heroins, entweder direkt oder mittels ihnen verbundener Warlords, Drogenbarone und Schmuggelkönige.

Wer die Begründung des Einmarsches in Afghanistan von damals ernst nimmt, müsste heute wenigstens sein Scheitern eingestehen. Auch das nichtmilitärische Engagement ist dort gescheitert, weil es den militärischen Zielen untergeordnet wurde. Das zeigt, welche katastrophalen Folgen es hat, wenn sich die Variablen einer militärischen Intervention an der politischen Stimmung in den Truppenstellerstaaten orientieren, statt an der Lage vor Ort.

Solange Afghanistan ein „failed state“ bleibt, werden immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Vor allem wirtschaftliche Aussichtslosigkeit, der Wunsch nach mehr persönlicher Freiheit, bewegen junge Afghanen zur unsicheren Reise in den Westen. So tragisch diese Perspektivlosigkeit ist: Ein Asylgrund ist sie dennoch nicht. Eher ein Grund, sich um die Stabilisierung der Heimat zu bemühen.

Ausbilden statt abschieben

Ein Schritt in die richtige Richtig wäre, jungen, von der Abschiebung bedrohten Afghanen im Rahmen der Entwicklungspolitik eine Facharbeiterausbildung zu ermöglichen. Danach könnten sie mit 20 000 Euro, die ihnen in Zusammenarbeit mit internationalen NGOs – nach NATO-Angaben sind etwa 6 000 am Hindukusch tätig – projektgebunden gewährt werden, eine eigene Existenz für sich und ihre Familien begründen und so dazu beitragen, sich und ihrem Heimatland eine Perspektive zu geben.

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"Mit Sicherheit keine Perspektive", UZ vom 9. Juni 2017



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