Manchmal spürt er den Rucksack noch, wenn er ihn längst abgesetzt hat: Lieferando-Rider Christoph fährt 60 Kilometer Fahrrad in einer Schicht, nimmt unzählige Treppenstufen, immer in höchster Eile, denn die Uhr läuft mit. Christoph heißt eigentlich anders. Er ist Protagonist einer Sendung von Report Mainz vom 1. August. Wohl aus Angst vor Repressionen von Lieferando tritt er unter falschem Namen auf.
Der Redaktion des ARD-Fernsehmagazins bekam mehrere hundert Seiten mit Lohndaten von Lieferando-Kurieren aus ganz Deutschland zugespielt, überprüfte sie auf Plausibilität und wertete die Daten aus. Die Lieferando-Fahrer bekommen Mindestlohn. Bei 35 Wochenstunden sind das ungefähr 1.700 Euro brutto pro Monat. Dazu kommen Bonuszahlungen, die sich vor allem nach der Zahl der erledigten Lieferungen richten. Wie viele Aufträge ein Rider schafft, ist Glücksache und hängt von der Länge der Lieferstrecken und der Wartezeit in Restaurants ab, bis eine Lieferung fertig ist.
In schlechten Monaten verdient Christoph so 240 Euro zusätzlich, in guten auch mal 350 Euro. Die Differenz „ist der Unterschied, einmal mehr im Monat warm essen zu können. Es ist der Unterschied, einmal mehr im Monat mit der Familie etwas unternehmen zu können“, erzählt Christoph. Bei Kollegen sind die monatlichen Schwankungen der Bonuszahlungen noch größer.
Lieferando verlege so das Geschäftsrisiko auf die Kuriere, kritisiert Mark Baumeister. Er arbeitet als Referatsleiter Gastgewerbe bei der Gewerkschaft NGG. „Im Mindestlohnbereich von Boni-Zahlungen zu reden und Leute mit Boni-Zahlungen abzuspeisen, ist eine Sauerei auf dem Rücken der Menschen“, sagt er in dem Report-Mainz-Clip.
Das Bonus-System treibt Kuriere dazu, unnötig schnell zu fahren und sich selbst und andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden. „Wir haben alle schon das Geld über Sicherheit gestellt“, sagt Christoph. Den Druck spüre er ständig.
Bestimmte Akkordlöhne sind deshalb seit den 1970er Jahren für Lkw-Fahrer verboten. Für Kuriere, die auf dem Fahrrad oder per Pkw unterwegs sind, gilt das Gesetz nicht. Das sei ein Problem, sagt Baumeister: „Lieferando nutzt hier Gesetzeslücken aus. Das Unternehmen bringt aus unserer Sicht die Beschäftigten in Gefahr durch die falschen Anreize, schneller zu fahren, damit sie mehr erreichen.“
Die miserablen Arbeitsbedingungen gehen Hand in Hand mit dem Kampf des Lieferando-Managements gegen Betriebsräte. In mindestens vier Städten – Aachen, Braunschweig, Bremen und Mainz – geht Lieferando derzeit juristisch gegen Betriebsratswahlen vor. So existiere etwa in Aachen kein eigener Betrieb, behauptet der Essenslieferdienst. Das Liefergebiet werde von Berlin aus koordiniert und geleitet. Diese Argumentation sei absurd, findet Daniel Lavalle. Er ist Betriebsratsvorsitzender bei Lieferando in Aachen. Kollegen aus Berlin hätten keine Chance, Aachen innerhalb eines Arbeitstages zu erreichen, um sich ein Bild über die Beschwerden der dortigen Beschäftigten zu machen.
Die NGG kämpft für einen Tarifvertrag bei Lieferando und ruft Beschäftigte des Unternehmens zu einer Demonstration am 17. August vor der Zentrale des Lieferdienstes in Berlin auf.
Bei Konkurrenten von Lieferando sind die Arbeitsbedingungen noch mieser. So stelle etwa Wolt seit letztem Herbst fast nur noch über Subunternehmer ein, heißt es in einem taz-Bericht. Zwei Fahrer eines solchen Subunternehmens klagen gerade gegen Wolt, weil sie um mehrere Monatslöhne geprellt wurden. Das Unternehmen behauptet, die Kläger seien ihm in dem beanstandeten Zeitraum nicht als Lieferer bekannt. Das sei wenig glaubwürdig, findet Rechtsanwalt Martin Bechert, der die Kläger vertritt. Schließlich werde bei der App-basierten Arbeit jeder Schritt minutiös überwacht. „Wolt schafft ein kriminogenes Umfeld, in dem Lohnraub erst möglich wird“, sagte er der taz.
Konkurrent Flink degradierte den Rider Raúl G., der sich für die Gründung eines Betriebsrats einsetzte, und mahnte ihn dann 18 Mal ab – innerhalb von zwei Wochen. Flink veröffentlichte sogar die Privatadresse von G. und spähte eine geschlossene Telegram-Gruppe von Journalisten aus, um dessen Identität zu ermitteln, nachdem er sich an die taz gewandt hatte. Schließlich kündigte Flink Raúl G. Das war im Winter. Ob er seinen Rucksack immer noch spürt?
Der knapp neunminütige Beitrag zu Lieferando von Report Mainz ist in der ARD-Mediathek abrufbar.