Auswertung der großen Tarifrunden auf der RLS-Konferenz in Bochum

Mit langem Vorlauf

„Zwischen alten Routinen und neuen Aufbrüchen“ – so lautet der Titel einer Arbeitsgruppe zur Auswertung der großen Tarifrunden. Sie war Teil der Konferenz „Gewerkschaftliche Erneuerung“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), die vom 12. bis 14. Mai an der Ruhr-Uni in Bochum stattfand. Interessant waren die vielen neuen Ansätze zur Vorbereitung von Tarifrunden unter Einbeziehung der Beschäftigten und Mitglieder, also die „neuen Aufbrüche“.

So wurde die Tarifrunde bei der Post, die Ende März mit einem Abschluss endete, bereits ab Juni 2022 auf einer Aktivenkonferenz vorbereitet. Es folgten Mitgliederversammlungen und -befragung (zirka 44.000 Teilnehmende) zu Höhe und Inhalt der Forderung. Etwa zwei Drittel der ver.di-Mitglieder waren der Auffassung, dass die zur Diskussion stehende Forderung nach 10 Prozent mehr Lohn zu gering ist, deshalb einigte man sich auf eine Forderung von 15 Prozent.

Mit dem Instrument „Mapping“ wurde in den einzelnen Einheiten erfasst, wie viele Beschäftigte, Befristete, Auszubildende und Mitglieder dort arbeiten, um herauszufiltern, wie der Streik vorbereitet werden kann. Da bei der Post viele Kolleginnen und Kollegen mit migrantischem Hintergrund arbeiten, wurden die Plakate in sieben Sprachen erstellt.

Wichtig war den Kolleginnen und Kollegen, dass sie Buttons zur Tarifrunde tragen, um auch bei der Kundschaft Gesicht zu zeigen. Über einen Telegram-Kanal wurden aktuelle Infos gestreut, was eine schnellere und größere Verbreitung ermöglichte als sie mit gedruckten Flyern möglich gewesen wäre. Nach den Verhandlungsrunden veröffentlichten „rasende Reporter“ Videos mit Infos zur Verhandlung. Nach jeder Verhandlungsrunde gab es direkt danach Online-Konferenzen mit bis zu 3.000 teilnehmenden Betriebsräten, Vertrauensleuten und Mitgliedern.

Als positiv wurde zudem eingeschätzt, dass bei den Kundgebungen während der Streiks die betroffenen KollegInnen selbst gesprochen haben. Die bessere Verbreitung von Informationen und die Einbeziehung der Mitglieder hat sicher mit dazu beigetragen, dass von den zirka 160.000 Tarifbeschäftigten knapp 100.000 KollegInnen an den Streiks teilnahmen – und dass, obwohl die zergliederten Poststellen eine Mobilisierung erschwerten: Es gibt 82 Briefzentren, 36 Paketzentren und 3.000 Zustelleinheiten.

Das Ergebnis der Urabstimmung, die zwischen dem 20. Februar und 8. März stattfand und bei der 85,9 Prozent für einen unbefristeten Streik votierten, sowie die Tatsache, dass ein Drittel die Tarifeinigung bei einer zweiten Urabstimmung ablehnte – trotz klarer Annahmeempfehlung der ver.di-Spitze – zeugt vom gestiegenen Selbstbewusstsein unter den Beschäftigten. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt bei knapp 70 Prozent. Sie haben sich im Tarifkampf aktiv und streikbereit gezeigt. Viele sind stolz darauf, dass sie gestreikt haben. Die Anregung, die Tarifrunden der verschiedenen Branchen zusammen zu denken und durchzuführen, wurde auf der RLS-Konferenz mit großem Beifall quittiert.

Thema waren auch die Tarifverhandlungen bei den Bahnunternehmen. Die große Herausforderung ist hier, die Laufzeiten von 50 größeren privaten Bahnunternehmen und der DB AG anzupassen, um gleichzeitig streikfähig zu sein. Dies ist mit jahrelangem Vorlauf geglückt, so dass die EVG die Beschäftigten dieser Unternehmen in eine gemeinsame Tarifauseinandersetzung führen konnte. Im November 2021 wurde bereits darüber diskutiert, was es bedeuten würde, die Tarifrunden zusammenzuführen. Im September 2022 wurde als gemeinsamer Nenner herausgearbeitet, dass die Forderung eine hohe Entgeltforderung – am besten mit Mindestbetrag – und eine kurze Laufzeit sein soll.

Die soziale Komponente (Mindestbetrag) war allen sehr wichtig, da viele Beschäftigten im Niedriglohnbereich angesiedelt sind. Im November wurden die Inhalte einer Mitgliederbefragung beschlossen, die anschließend durchgeführt wurde. Im Februar wurde in einer Zukunftswerkstatt unter Teilnahme aller Tarifkommissionen die Forderung von 12 Prozent mehr Lohn, mindestens 650 Euro, aufgestellt. Als Highlight wurde in der Arbeitsgruppe der gemeinsame Streik mit ver.di am 27. März genannt. Dieser gemeinsame Streiktag von Nah- und Fernverkehr und zwei Gewerkschaften sei ein neues, starkes Element gewesen, das den „KollegInnen viel Spaß gemacht“ habe. Sie hätten „richtig Bock drauf“ gehabt, hieß es.

Im Länderbereich des öffentlichen Dienstes mit über 2 Millionen Beschäftigten findet im Herbst die nächste Tarifauseinandersetzung statt. Dieser Bereich wurde kaputtgespart, der Personalmangel ist hoch, dementsprechend auch die Belastung. Die Abschlüsse der letzten Jahre waren schlecht, der Organisationsgrad ist niedrig und liegt im einstelligen Bereich. Dementsprechend gering ist die Streikstärke. Tabellenwirksame Erhöhungen sollen im Zentrum stehen, eine „Inflationsausgleichsprämie“ soll nicht Teil der Forderungen sein. In den Verhandlungskommissionen sollen KollegInnen aus den Bereichen sitzen, um diese Machtressource und ihre Erfahrungen nutzen zu können. Die Tarifrunde soll zusammen mit den studentischen Beschäftigten geführt werden, die seit langen für einen Tarifvertrag eintreten. Dies sind bundesweit immerhin 400.000 KollegInnen, viele in Kettenbefristung und Niedriglohn.

Einig waren sich die rund 50 Teilnehmenden in der Arbeitsgruppe, dass die Vorbereitung und Einbeziehung der Mitglieder in den Tarifrunden deutlich besser war als in den letzten Jahren, dass das Argument, es sei kein Geld da für die Beschäftigten, durch die Hochrüstungspolitik längst als Lüge entlarvt ist und dass die Tarifauseinandersetzungen eingebettet gehören in gesellschaftliche Bewegungen unter Einbeziehung von Bündnissen und Organisationen. Notwendig sei, dass die Tarifkommissionsmitglieder ihren Mitgliedern verpflichtet sind und sie Ergebnisse rückkoppeln müssen. Es brauche dringend mehr Transparenz und Kommunikation, aber auch mehr Klassenbewusstsein. Auch im öffentlichen Dienst herrschten Interessengegensätze, die erkannt werden müssten. Die Interessen der Beschäftigten könnten nur im Kampf durchgesetzt werden, nicht durch Betteln. Es müssen mehr gemeinsame Kämpfe entwickelt und Solidaritätsstreiks organisiert werden – das sei ein erster Schritt Richtung Generalstreik, so die Ansage in der Schlussrunde des Podiums.

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"Mit langem Vorlauf", UZ vom 26. Mai 2023



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