Die „Kleine Geschichte der SED – Ein Lesebuch“ breitet chronologisch und sehr umfangreich die wesentlichen Etappen der Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung der DDR bis zu ihrem Ende aus. Dargestellt wird in diesem Prozess die jeweilige Rolle der SED und in besonderem Maße ihrer führenden Köpfe Walter Ulbricht und Erich Honecker. Dabei war es dem Autor, Heinz Niemann, ein spezielles Anliegen, über diese beiden Politiker „ein historisch möglichst gerechtes Urteil abzugeben“. Das ist ihm aufgrund seines konsequent historisch-materialistischen Herangehens bei der Auswertung eines breit gefächerten Quellenmaterials und seines „Insiderwissens“ überzeugend gelungen. Der Leser erhält tiefere Einblicke in die Auseinandersetzungen in den obersten Führungsgremien der Partei, besonders des Politbüros und des Zentralkomitees sowie des Staatsapparates.
Heinz Niemann hat dieses Buch nicht nur als Zeitzeuge, sondern auch mit großem Sachverstand und persönlichen Einblicken in das politische Geschehen verfasst. Geboren 1936 in Magdeburg, war er nach einem Studium der Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft, der Promotion und seiner Berufung zum ordentlichen Professor für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung als Hochschullehrer tätig, zuletzt bis 1992 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Einige Jahre war er auch Mitarbeiter der Abteilung Wissenschaft im ZK der SED. Er verfasste zahlreiche, auch international beachtete Publikationen, insbesondere zur SPD und deren Geschichte.
Der Autor betont selber, dass er im Laufe der Jahre wachsende Empathie für Walter Ulbricht empfand, was für dessen späteren Nachfolger nie der Fall war, sondern sich gegen Ende der sechziger Jahre in das direkte Gegenteil verkehrte. Niemann blendet dabei aber keinesfalls die unter Ulbricht begangenen Versäumnisse, Fehler und Irrtümer bis hin zu Unrecht aus.
Im Vergleich der beiden Politiker Ulbricht und Honecker spielte die Einstellung zu den im wechselvollen, kurzen Verlauf der DDR-Geschichte unbedingt notwendigen Reformen eine ganz entscheidende Rolle. Niemann stellt die gravierenden Unterschiede zwischen den beiden besonders am Beispiel der Wirtschaftspolitik heraus. Ulbricht, dem man Kompetenz auf diesem Gebiet, auch in theoretischer Hinsicht, zusprechen konnte, setzte in den sechziger Jahren zusammen mit einem Kreis von Reformern neue wirtschaftspolitische Schwerpunkte. Im von diesen angestrebten Neuen Ökonomischen System (NÖS) sollten verstärkt Elemente des Marktes einfließen, sollte quasi eine Art „sozialistische Marktwirtschaft“ gestaltet werden. Der dauerhafte Widerspruch von geringem Wachstum der Arbeitsproduktivität und höherem Einkommen sollte wirtschaftspolitisch gelöst werden. Die Gründe des Scheiterns dieser Reformbestrebungen werden im Buch ausführlich dargestellt.
Die Wirtschaftspolitik Honeckers unterzieht der Autor einer äußerst scharfen Kritik. Die vom VIII. Parteitag der SED 1971 beschlossene Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die zunächst auf große Zustimmung in der Bevölkerung – übrigens auch beim Verfasser dieses Artikels – stieß, enthielt allerdings einen Kardinalfehler. Sie war nach Einschätzung von Heinz Niemann eine voluntaristische Konzeption, die darauf abzielte, „durch sozialpolitische Vorleistungen die Leistungsbereitschaft der Werktätigen und damit die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zu erhöhen“. Sie widersprach jedem marxistischen politökonomischen Verständnis. Der Autor kommt zu dem Fazit, dass das Festhalten von Honecker an diesem Kurs ungeachtet der sich immer weiter verschlechternden wirtschaftlichen Situation in den 80er Jahren die DDR an den Rand des finanziellen Bankrotts getrieben hatte.
Das Buch vermittelt aufschlussreiche Einblicke in die Deutschlandpolitik und das Verhältnis der SED zur UdSSR und KPdSU während der Ulbricht- und der Honecker-Ära. Interessant ist zum Beispiel der Hinweis, dass Honecker der Illusion verfallen war, die Sowjetunion würde der DDR eine dauerhafte Existenzgarantie gewähren. Ulbricht hatte 1952 die Erfahrung gemacht, dass sie durchaus zu einem Verhandlungsobjekt mit dem Westen werden könnte. Was ja letztlich auch so eintraf.
Niemanns Schrift trägt zu Recht den Untertitel „Ein Lesebuch“. An vielen Stellen findet man umfangreiche Zusammenstellungen von Fakten und Ereignissen, die nicht nur die Wirtschaft betreffen, sondern auch ein breites Feld von Kultur, Kunst, Sport, Wohnen, Verkehr, Bildung und gesellschaftlichem Leben abdecken. So wird auch ein Bild vom Alltagsleben in der DDR vermittelt, das nicht nur für Zeitgenossen von Interesse sein dürfte. Das Buch endet mit einem kurzen Abschnitt über die Stellung der DDR in der europäischen Nachkriegsgeschichte.
An manchen Stellen hätten die Auszüge aus den vielen Quellen und Dokumenten etwas kürzer gehalten werden können. Dieses Buch von Heinz Niemann stellt aber insgesamt einen wertvollen Beitrag in der Auseinandersetzung mit der von den herrschenden Medien und Geschichtsinstitutionen betriebenen Delegitimierung der DDR und der SED dar. Es fordert die Leserinnen und Leser und hat möglichst viele von ihnen verdient.
„Kleine Geschichte der SED. Ein Lesebuch“ Verlag am Park 2020. 774 Seiten, 30,- Euro