Madeleine Riffaud war eine der letzten Überlebenden der französischen Résistance. Am 6. November starb sie im Alter von 100 Jahren in Frankreich. Florence Hervé widmete ihr ein Kapitel in ihrem Buch „Ihr wisst nicht, wo mein Mut endet“ über europäische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg. Wir dokumentieren es mit freundlicher Genehmigung der Autorin und in Gedenken an Madeleine Riffaud alias „Rainer“.
Die Antifaschistin und Widerstandskämpferin Madeleine Riffaud war auch Kriegsreporterin in Algerien und Vietnam, Dichterin und investigative Journalistin. Der Résistance innerlich angeschlossen hatte sich die in Arvillers geborene und in Folies in Nordfrankreich aufgewachsene Madeleine Riffaud früh. Das Dorf war umgeben von den Schlachtfeldern und Friedhöfen des Krieges. Somit war die glückliche Kindheit im Département Somme von Erinnerungen an die »Grande Guerre«, den grausamen Ersten Weltkrieg, und an den schwer verletzten Vater getrübt. Die katholische Mutter und der sozialistische Vater, beide Lehrer, stammten ursprünglich aus dem grünen Limousin. Als 16-Jährige erlebt sie im Juni 1940 die Flucht von Millionen Menschen vor der deutschen Wehrmacht. Ein furchtbarer Schock. Selbst mit ihren Großeltern auf der Flucht, wird sie im Bahnhof Amiens von einem deutschen Offizier mit einem kräftigen Fußtritt zu Boden gestoßen. „Mit der Nase im Staub“ beschließt sie: „Ihr werdet uns nicht mehr lange demütigen.“
Deckname Rainer
Zunächst muss sie, TBC-krank, einige Wochen in einem Sanatorium in Saint-Hilaire-du-Touvet nahe Grenoble verbringen, in dem zahlreiche Studierende untergebracht und Juden versteckt werden. Anfang 1942 schließt sie sich der Résistance an, zunächst in der kommunistischen Studentengruppe. Eine ihrer ersten Aktionen ist es, die Mauern der Straße École-de-Médecine im Quartier Latin mit Anti-Nazi-Parolen mit Kreide zu beschriften. Sie führt ein Doppelleben, als Studentin der Hebammenschule in Port-Royal/Paris, und als Verbindungsagentin – Deckname Rainer, nach ihrem Lieblingsdichter Rainer Maria Rilke genannt. Nun heißt es Essensmarken besorgen, Nachrichten übermitteln, Waffen schmuggeln.
Im Februar 1944 werden nach einer Rufmordkampagne der Gestapo 23 Mitglieder der Migranten-Partisanengruppe Manouchian gefoltert und hingerichtet. Riffauds Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Sie engagiert sich im bewaffneten Kampf in den von der Kommunistischen Partei gegründeten FTP-Freischärlern und Partisanen. Im Juni 1944 wird das Dorf Oradour im Limousin von der SS in Schutt und Asche gelegt, 642 Menschen erschossen oder verbrannt. Riffaud ist erschüttert. Sie kannte das Dorf gut, als es noch voller Leben war, da traf sich ihre Familie während der Ferien. Sie wird auch einen Text darüber schreiben, „Kinder sangen“. Am 20. Juli wird einer ihrer Kameraden, der Medizinstudent und FTP-Partisan Picpus (Charles Martini) ermordet. „Das war zu viel“ für die 19-Jährige. „Die Zeit der Rache war gekommen.“ Die FTP-Kämpferin erschießt am helllichten Tag einen Nazi-Unteroffizier auf der Pariser Fußgängerbrücke Pont de Solférino. Zwei Schüsse. „Der Mann, der schoss, das war ich“, schreibt sie fünfzig Jahre später in ihren Erinnerungen „On l’appelait Rainer“ (1994). „Es ist furchtbar zu töten, auch einen Feind.“ Sie musste aber zeigen, dass Besetzung und Massaker nicht geduldet werden, und dass es Widerstand gibt.
Im Vorzimmer des Todes
Sie wird von der französischen Miliz und der Gestapo gefoltert, im berüchtigten Gestapo-Keller Rue de Saussaies und im Gefängnis Fresnes, „das Vorzimmer des Todes“. Das Gedichtschreiben hilft ihr, Ängste zu besiegen. „Angst vor Stiefeln / Angst vor Schlüsseln / Angst vor Türen / Angst vor Fallen. Zwei sind’s – ich zwischen ihnen beiden / ‚Marsch‘ heißt’s – sonntags, ein Sonnentag! / Marsch! – hin zum großen Kerker / Dem Eingang in die Folterhölle.“
Zum Tode verurteilt, wird sie zwischen französischer Miliz und Gestapo hin und her geschoben. Nach der Rue de Saussaies ist es das Gefängnis Fresnes. Dort muss sie zusehen, wie eine schwangere Frau und ein Junge gefoltert werden. Am 5. August soll sie erschossen werden, landet aber erneut in der Rue de Saussaies. Dort „habe ich Bach spielen hören, das schwöre ich Euch – begleitet, manchmal übertönt durch die Schreie der Gefolterten“. Sie wird erneut gefoltert, mit Schlafentzug und Stromstößen, zwei Wochen lang auf einen Stuhl gefesselt. Nase und Unterkiefer gebrochen. Sie verrät keinen Namen. Und sie schreibt: „Selbst in den schlimmsten Momenten – zum Beispiel als uns die Deutschen für ein Stück Brot weinen, ja kriechen sehen wollten – muss man sich sagen: Ich bin kein Opfer! Ich bin eine Kämpferin! Das ändert alles!“ Weiter heißt es: „Wir sind keine Märtyrerinnen, sondern Kämpferinnen. Keine Opfer, sondern Widerständlerinnen.“
Auf den Barrikaden
Am 15. August soll die zum Tode Verurteilte vom Pariser Bahnhof Pantin aus nach Ravensbrück deportiert werden. Eine Kameradin springt mit ihr aus dem Zug. Sie werden von der SS ‚empfangen‘ und zurück nach Fresnes gebracht. Am 19. August gibt es einen Gefangenenaustausch vom Roten Kreuz. „Rainer“ kommt frei. Nach 36 Stunden „Ruhepause“ im Krankenhaus folgt sie dem Aufruf zum Pariser Aufstand, und steht auf den Barrikaden. Am 23. August 1944, an ihrem zwanzigsten Geburtstag, befehligt die Offiziersanwärterin die Partisanen der Compagnie St Just auf einem Panzer, schafft es mit ihnen, einen Panzerzug flüchtender Nazi-Soldaten im Tunnel der Buttes-Chaumont zum Stillstand zu bringen. 80 Soldaten der Wehrmacht werden gefangen genommen. Zwei Tage später gelingt es ihrer Compagnie, die Kaserne Place de la République zu erobern.
Sie wird als Heldin gefeiert und mit Militärorden ausgezeichnet: Sie habe während des Kampfes an der Spitze der Freischärler und Partisanen (FTP) das Beispiel für „außerordentlichen physischen Mut und moralischen Widerstand“ gegeben.
Lebendig, aber zerstört
Paris ist befreit, Frankreich noch lange nicht. »Rainer« will weiterkämpfen, darf es aber nicht in einem Land, in dem es kein Frauenwahlrecht gibt. Es heißt nun: Rückkehr zum Leben, zunächst zum Überleben. Madeleine Riffaud fällt in eine tiefe Depression: „Ich war lebendig, aber zerstört“. Wo ist ihr Platz, fragt sie sich, bei den Toten, bei den Lebenden? Eine kurze Ehe verbindet sie mit dem kommunistischen Schriftsteller Pierre Daix, der das KZ Mauthausen überlebt hatte, und mit dem sie eine Tochter hat. Diese ist an Tuberkulose erkrankt, wie sie früher. Die erlittene Folter, verbunden mit der Scham, überlebt zu haben, sollte ihren weiteren Weg bestimmen: „Ich musste mein Leben rechtfertigen, vor mir mehr als vor den anderen, (…) weil ich nicht erschossen wurde. Davon werde ich nie heilen.“ Ihre Lebensaufgabe heißt nun, über das Leid der Schwächeren zu berichten.
Mit geballter Faust
Die Literatur wird Zuflucht, die Feder zur Waffe. Picasso widmet ihr ein Porträt, der Dichter Paul Eluard ermutigt sie zum Schreiben. Im Herbst 1945 erscheinen ihre Gedichte unter dem Titel „Mit geballter Faust“ („Le Poing fermé“). In den nächsten Jahren arbeitet sie für Louis Aragons Tageszeitung „Ce soir“, für die Zeitschrift des Gewerkschaftsbunds CGT und ab 1958 für „L’Humanité“. 1951 berichtet sie über die Weltfestspiele der Internationalen Föderation der demokratischen Jugend in Berlin. Dort lernt sie den vietnamesischen Dichter Nguyen Dinh Thi kennen, ihre große Liebe.
Als Kriegsreporterin ist sie auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit bis 1973 unterwegs, sie will Brücken zwischen den Menschen bauen. „Mein Zuhause ist der Ort, wo die Kämpfer vorbeiziehen“. Als Sonderkorrespondentin berichtet sie aus dem algerischen Krieg und aus Nordvietnam, auch für deutsche Medien. „Ich habe immer die Nazis gehasst, aber nicht das deutsche Volk“, sagte Riffaud im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP. 1962 entkommt sie, schwer verletzt, einem Attentat der militärischen kolonialistischen Geheimorganisation OAS, später den US-Bomben in Vietnam. Darüber veröffentlicht sie „Im Maquis der Vietkong“ (1965) und „Nordvietnam – unter dem Bombenhagel geschrieben“ (1967).
Inkognito als Pflegerin
Nach 1973 schreibt sie Erzählungen, Kinderbücher und eine Anthologie von Gedichten („Cheval Rouge“, „Rotes Pferd“). Und sie übersetzt antikolonialistische Gedichte. Ihr Bestseller „Les linges de la nuit“ („Nachtwäsche“, 1974) beschreibt den Alltag und die schwierigen Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern – dafür arbeitete sie mehrere Monate lang inkognito als Pflegehelferin.
1994 legte ihr der gute Freund und Widerstandskämpfer Raymond Aubrac eindringlich nahe, sie solle endlich über das, was sie erlebte, berichten. Nicht für sich, die Bescheidene, sondern für alle. Sie habe eine Erinnerungspflicht. Bis vor wenigen Jahren trat Madeleine Riffaud als Zeitzeugin in Versammlungen und Schulen auf – eine der letzten, die die Befreiung von Paris miterkämpft hatten. Sie schrieb 2007, nach dem Tod des SS-Offiziers Heinz-Barth: „Der Henker von Oradour / ist heute früh gestorben, / Sehr alt / In seinem Bett, / Ohne Reue.“
Ihre Erinnerungen als 95-jährige wurden in einem Comic über sie festgehalten. Riffaud zeigte, dass Literatur und Engagement sich nicht widersprechen, sondern zusammengehen können: „Ein Gedicht zu schreiben, war ein Akt der Individualität und damit der Résistance“, so Riffaud. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, so das Croix de guerre bereits am 6. August 1945 für ihre Widerstandstätigkeit gegen die Nazi-Besatzung, Ritterin der Ehrenlegion 2001 und den nationalen Verdienstorden 2013. In den letzten Jahren wurden mehrere Straßen und Schulen nach Madeleine Riffaud genannt, Gedenktafeln ihr gewidmet.
Aus:
Florence Hervé (Herausgeberin)
Ihr wisst nicht, wo mein Mut endet. Europäische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg
Neue Kleine Bibliothek 334, 317 Seiten, PapyRossa
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