Eine Bilanz der letzten neun Jahre Münchener Sicherheitskonferenz

Mit der NATO gegen den eigenen Abstieg

Die Münchener Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference, MSC) ist neben vielem anderen immer auch eines gewesen: ein Spiegel der großen Ziele, die sich die jeweilige Bundesregierung für ihre Weltpolitik setzte, der Strategien, die sie dazu verfolgte – und ein Gradmesser des Ehrgeizes, mit dem sie sich an die Realisierung ihrer Pläne machte. Ein Blick auf zentrale Themen der Sicherheitskonferenzen in den vergangenen neun Jahren zeigt den Wandel, die sich verschiebenden Schwerpunkte der Berliner Außenpolitik.

USA machen Platz in Europa

Die MSC 2014 begann mit einem echten Paukenschlag. Bereits in den Tagen vor ihrem Beginn am 31. Januar 2014 hatten sich Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit einem ungewöhnlich offen vorgetragenen Machtanspruch zu Wort gemeldet. Von der Leyen hatte moniert, „Europa“ komme „im Spiel der globalen Kräfte nicht voran, wenn die einen“ – das zielte auf Deutschland – „sich immer dezent zurückhalten, wenn es um militärische Einsätze geht“, während „die anderen“ – damit war besonders Frankreich gemeint – in Sachen Kriegsoperationen „unabgestimmt nach vorn stürmen“. Von der Leyen hatte vermutlich den Libyen-Krieg im Sinn. Die Bundesrepublik, forderte sie, müsse dringend mehr „internationale Verantwortung“ übernehmen. Steinmeier wiederum hatte zu Protokoll gegeben, Deutschland sei „zu groß, um die Weltpolitik nur zu kommentieren“: Es werde „zu Recht“ von Berlin erwartet, „dass wir uns einmischen“. Dabei solle eine „Politik militärischer Zurückhaltung“ künftig auf gar keinen Fall „missverstanden werden als ein Prinzip des Heraushaltens“: Militäreinsätze dürfe man nicht „aus dem Denken verbannen“.

Wieso traten Steinmeier und von der Leyen mit derlei drastischen Tönen auf? Nun, es gab zweierlei Gründe. Zum einen hatte sich gezeigt, dass die Entscheidung der Bundesregierung im Jahr 2011, sich nicht am Libyen-Krieg zu beteiligen, den deutschen Einfluss in Nordafrika geschwächt hatte. In der Debatte, die daraufhin in Berlin geführt wurde, hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, es sei besser, sich am nächsten Krieg zu beteiligen, um nicht ein weiteres Mal machtpolitisch zurückzufallen. Ein erster Test war Anfang 2013 die Entsendung einer erklecklichen Anzahl deutscher Soldaten nach Mali, verbunden mit dem Versuch, dort auch politisch offensiver aufzutreten. Zum anderen war in den Jahren 2012 und 2013 eine transatlantisch abgestimmte Grundsatzdiskussion geführt worden, wie damit umzugehen sei, dass US-Präsident Barack Obama Ende 2011 seinen „Pivot to Asia“ (deutsch: Schwenk nach Asien) verkündet hatte, um alle Energie für den Machtkampf gegen China zu verwenden. Ein zentrales Ergebnis der Diskussion: Deutschland solle dort stärker die Kontrolle übernehmen, wo Washington künftig weniger Ressourcen einsetzen wolle, in Osteuropa, in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten – ganz besonders im „Anti-Terror-Krieg“ in der islamischen Welt.

Daher also der so dick aufgetragene Machtanspruch, mit dem die Bundesregierung das Publikum schon vorab auf die MSC 2014 einstimmte und den auf der Konferenz selbst dann vor allem Bundespräsident Joachim Gauck bestätigte. Deutschland müsse „entschlossener“ auftreten, um den globalen „Ordnungsrahmen … zu erhalten und zu formen“, behauptete der Bundespräsident; dazu werde „auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein“. Dies gelte umso mehr, als „die einzige Supermacht“ – nämlich die Vereinigten Staaten – „Ausmaß und Form“ ihrer weltpolitischen Aktivitäten überprüften; Gauck meinte Obamas „Pivot to Asia“. Wenn aber die USA „nicht ständig mehr leisten“ könnten, dann müssten „Deutschland und seine europäischen Partner für ihre Sicherheit zunehmend selbst verantwortlich“ sein. Gauck säuselte, Einwände mit Blick auf die deutschen Aggressionsverbrechen der Vergangenheit vorwegnehmend: „Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir kennen.“ Daher sei eine ausgreifende Berliner Weltpolitik nicht nur legitim, sondern auch aussichtsreich: „Wer sich selbst vertraut, gewinnt die Kraft, sich der Welt zuzuwenden.“

Störer am Werk

Stand die MSC 2014 ganz im Zeichen eines offen vorgetragenen Berliner Machtanspruchs und des Ziels, mit Auslandseinsätzen zum „Anti-Terror-Krieg“ rund um Europa beizutragen, so wurde die MSC 2015 von den Ereignissen in Osteuropa überschattet, die wenige Wochen nach der MSC 2014 begonnen hatten: vom Umsturz in der Ukraine, vor allem aber von der Aufnahme der Krim in die Russische Föderation, die ein schwerer Schlag für den westlichen Anspruch war, das Geschehen in der Welt so umfassend wie möglich zu kontrollieren. Der damit eskalierende Machtkampf um die Ukraine habe „uns vor Augen geführt“, urteilte der damalige Leiter der MSC, der ehemalige Spitzendiplomat Wolfgang ­Ischinger, dass „grundlegende Regeln“ des 1990 entstandenen, vom Westen dominierten Weltsystems nun „auf die Probe gestellt“ würden; faktisch war das vor allem die „Regel“, dass der Westen den Gang der Dinge diktieren konnte. Insofern müsse man konstatieren, erklärte Ischinger mit Blick auf die Debatten, die auf der MSC 2015 erwartet wurden: „2014 war ein Epochenjahr“ – „das erste Jahr nach der Post-Cold-War-Ära“. Der MSC-Leiter sah die Welt bereits in ein „Zeitalter des Ordnungszerfalls“ eintreten.

Die MSC 2016 knüpfte daran an. „Die traditionellen Wächter einer liberalen Ordnung“, so hieß es im Munich Security Report, einem umfangreichen Begleitheft zur Konferenz, seien „mit einer wachsenden Zahl an Störern“ konfrontiert, die die „zersplitternden Ordnungen weiter destabilisieren“. Die „Störer“ – damit war natürlich vor allem Russland gemeint, daneben aber etwa auch die Türkei, mit der es zunehmend Spannungen gab, und es rückte in wachsendem Maß auch der Konflikt zwischen den USA und China in den Blick, der „immer schwieriger“ einzuhegen sei. Die Autoren des Munich Security Report fragten: „Baut China eine Parallelordnung auf?“ Ernste Sorgen machten sie sich wegen des NATO-Aufmarschs in Ost- und Südosteuropa, der – so warnten sie – „das reale Risiko einer weiteren Eskalation“ mit sich bringe: Man könne nicht ausschließen, dass da in Osteuropa ein „neuer Eiserner Vorhang“ entstehe. Und nicht nur das. MSC-Leiter Ischinger berichtete sorgenvoll, Ex-US-Verteidigungsminister William Perry schätze „die Gefahr einer nuklearen Konfrontation so hoch ein wie noch nie“ seit 1990; und er fügte hinzu: „Ich teile diese Einschätzung.“ Man erlebe gerade „die gefährlichste Weltlage seit dem Ende des Kalten Kriegs“.

Deutschland will Führung ­übernehmen

Das Jahr 2017 brachte mit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump, mit dessen offenen Angriffen gegen die EU und seinen Attacken auf die transatlantischen Beziehungen auch für die MSC einen gewissen Bruch. Hatte zuvor die Frage dominiert, wie der Westen die „Störer“ der von ihm dominierten Weltordnung wieder zur Einordnung in diese zwingen könne, so rückte nun plötzlich und unerwartet das Verhältnis zu den USA ins Zentrum der Debatten – und zudem der Versuch, die EU gegenüber den Vereinigten Staaten aufzuwerten. „Die USA taugen jetzt leider nicht mehr als das politisch-moralische Führungssymbol des Westens“, erklärte Ischinger; „die Ankunft von Trump“ bedeute „das Ende des Westens, bei dem die USA der Fackelträger sind“. Es sei nun „Europas Aufgabe“, diesen „Verlust zu ersetzen“. Außenminister Sigmar Gabriel schloss sich diesen Vorstößen auf der MSC 2017 an. Man müsse feststellen, äußerte er, dass „Amerika nicht die Führungsmacht bleiben kann und will“. Die EU könne deshalb nun endlich „eine Partnerschaft auf Augenhöhe“ beanspruchen – und zwar „mit gemeinsamer Verantwortung statt bloßer Gefolgschaft“.

Auf der MSC 2018 legte Gabriel, noch Außenminister, nach. Zwar sei die EU noch nicht mächtig genug, um „in dieser Welt prägend“ zu sein, räumte er auf der Konferenz ein; „das schaffen wir nur zusammen mit unseren Partnern“. Doch müsse Brüssel dann eben daran arbeiten, stärker zu werden: Eine klare „Machtprojektion“ des europäischen Staatenkartells „in die Welt“ hinein sei vonnöten, bei der man auf „das Militärische“ nicht verzichten dürfe. Schon vorab hatte auch MSC-Leiter Ischinger für eine offene Machtpolitik der EU geworben und für deren „Emanzipation“ von den USA plädiert: „Wir sind 500 Millionen Europäer und das sind da drüben 350 Millionen Amerikaner. Wir haben etwas zu sagen.“ Ischinger drang dazu unter anderem auf den raschen Aufbau einer EU-Armee. Gabriel wiederum nahm in seiner Rede auf der MSC 2018 neben Russland auch China offen ins Visier. Dessen Aufstieg stelle eine historische „Wegscheide“ dar, „wie sie die Welt nur alle paar Jahrhunderte erlebt“, hielt der Außenminister fest; jetzt werde sich entscheiden müssen, ob man „den Beginn eines neuen asiatischen Zeitalters“ und „die Selbstaufgabe“ des Westens erlebe – oder ob Europa den „Mut“ aufbringe, „sich den Herausforderungen einer weit unbequemeren und risikoreicheren Welt zu stellen“.

Der Westen zerstritten und am Verlieren

Die Kämpfe zwischen den großen Mächten – sowohl die transatlantische Konkurrenz wie auch die Machtkämpfe des Westens gegen Russland und zunehmend gegen China – rückten im folgenden Jahr noch weiter in den Mittelpunkt. Die Welt sei in eine neue „Ära der Großmachtrivalitäten“ eingetreten, konstatierte MSC-Leiter Ischinger; der Munich Security Report 2019 diagnostizierte, für die Vereinigten Staaten habe der „Großmächtewettbewerb“ nun endgültig den „Anti-Terror-Krieg“ als Schwerpunkt ihrer weltpolitischen Aktivitäten abgelöst. Es war die Zeit, in der die Trump-Administration den US-Wirtschaftskrieg gegen China mit Strafzöllen und Sanktionen etwa gegen Huawei eskalieren ließ und Berlin sich zunehmend zu sorgen begann, die deutsche Wirtschaft – fatalerweise abhängig sowohl vom US- als auch vom Chinageschäft – könne zwischen die Räder geraten. Die einzige Option, die Erfolg verspreche, erklärte Außenminister Heiko Maas auf dem MSC 2019, sei das, was bereits in den zwei Jahren zuvor in Absetzung von der Trump-Administration beschworen worden sei: „ein starkes, handlungsfähiges Europa“. Gelinge es nicht, die EU als Weltmacht zu positionieren, dann „laufen wir Gefahr“, warnte Maas eindringlich, „in einer Welt der Großmachtkonkurrenz zerrieben zu werden“.

Auf der MSC 2020 ließ Konferenzchef Ischinger mit Blick auf die globale Entwicklung die Alarmglocke läuten. China erstarkte immer mehr – nicht nur wirtschaftlich, auch militärisch, so dass US-Generäle so langsam zu zweifeln begannen, ob ein etwaiger Krieg gegen die Volksrepublik für die Vereinigten Staaten überhaupt noch zu gewinnen sei. Zugleich wurde Russland stärker, hatte sich in Syrien eine dominante, in Libyen eine relevante Stellung gesichert und begann seinen Einfluss in Afrika auszudehnen. Ischinger stellte die Konferenz und den Munich Security Report unter das Motto „Westlessness“ – ein kaum übersetzbarer Kunstbegriff, der prägnant verdeutlichen sollte: Eine Welt ohne westliche Dominanz war, sehr zum Bedauern der transatlantischen Mächte, denkbar und möglich. Habe der Westen in den Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Kriegs „beinahe unangefochtene militärische Bewegungsfreiheit“ genossen, so sei dies inzwischen nicht mehr der Fall, hieß es im Munich Security Report; selbst die gewohnte, „nahezu konkurrenzlose weltweite Überlegenheit“ der NATO-Staaten in der Militärtechnologie stehe mittlerweile in Frage. Der Bericht zitierte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: „Wir waren an eine internationale Ordnung gewöhnt, die auf der westlichen Hegemonie seit dem 18. Jahrhundert beruht hatte. Die Dinge ändern sich.“

NATO gewinnt gegen EU

Was tun? Was die Entwicklung im nördlichen Afrika sowie im Nahen und Mittleren Osten anbelangte – in Regionen also, in denen Russland seinen Einfluss auszubauen begann –, rief Außenminister Maas auf der MSC 2020 nach mehr Militär: „Deutsche Sicherheit“ werde heute auch „im Irak, in Libyen und im Sahel“ verteidigt, verkündete er; in den genannten Regionen ging es nicht mehr nur um den Kampf gegen Dschihadisten, sondern nun auch gegen Moskau. Entsprechend wurde auf der Konferenz über einen Luftwaffeneinsatz in Libyen, über eine Ausweitung des Bundeswehreinsatzes im Sahel diskutiert. Was den Machtkampf gegen China anbelangte, erhöhte Washington in München den Druck und drohte, wer 5G-Technologie von Huawei benutze – die meisten EU-Staaten taten dies noch –, gefährde „das erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte – die NATO“. Auf deutscher Seite gab es zweierlei Reaktionen: Die einen appellierten einmal mehr – hilf- und erfolglos –, man müsse die EU als Gegengewicht gegen die USA stärken; die anderen machten es wie der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer, der einen engen Schulterschluss mit Washington für alternativlos erklärte und auf der MSC 2020 die Gründung eines Transatlantic China Caucus (deutsch: Transatlantischer China-Ausschuss) forderte. Daraus wurde letztlich die Inter-Parliamentary Alliance on China (deutsch: Interparlamentarische Allianz gegen China), eine knallhart antichinesische Pressure Group (deutsch: „Aktionsgruppe“).

Konnte die MSC 2021 pandemiebedingt nur online im Minimalformat durchgeführt werden, so stand die MSC 2022 dann tatsächlich im Schatten eines umfassenden transatlantischen Schulterschlusses, wenngleich dieser – noch? – nicht gegen China, sondern unter dem Eindruck des heraufziehenden Ukraine-Krieges gegen Russland vollzogen wurde. Mit Blick auf die Kriegsgefahr zelebrierte die NATO Geschlossenheit. Die russische Regierung war nicht mehr in München repräsentiert, dafür aber die Ukraine, deren Präsident Wolodymyr Selenski neben dem Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko mit Nachdruck um Unterstützung warb. Im Falle eines Einmarsches in die Ukraine werde Russland den Westen geschlossen gegen sich haben, kündigte US-Vizepräsidentin Kamala Harris an und stellte umfassende Sanktionen in Aussicht. So kam es nur wenige Tage später. Das transatlantische Bündnis wurde unter Führung der USA mit der Lieferung von immer mehr Waffen und mit der Ausbildung von immer mehr ukrainischen Soldaten faktisch zur Kriegspartei. Zwar wird in Berlin, wie es so oft auch auf der MSC geschah, immer noch zuweilen appelliert, man müsse nun endlich der EU zu deutlich größerer Schlagkraft verhelfen, um der US-Dominanz nicht auf Dauer hoffnungslos ausgeliefert zu sein. Das Format, das sich in den zur Zeit eskalierenden Großmächtekonflikten aber als entscheidend erweist, ist nicht die Europäische Union – ihre Macht reicht schlicht nicht aus –, sondern die NATO.

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"Mit der NATO gegen den eigenen Abstieg", UZ vom 17. Februar 2023



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