Wissen, Gewissen und politische Führung

Mit dem Gesicht zum Volke

Kolumne

„Du musst die Führung übernehmen!“ Brecht könnte es dem befreiten Antifaschisten zugerufen haben, der in Konrad Wolfs Film „Ich war neunzehn“ im Frühjahr 1945 von der Roten Armee auf einem Stückchen Ostdeutschland zurückgelassen wird. Er soll diesen Flecken regieren und fragt sich, ob er der Aufgabe gewachsen ist. Mit dem Interbrigadisten-Lied von der Jarama-Front entfernt sich die Kamera. Warum wünschte sich der wohlgesinnte Zuseher von ganzem Herzen, diesem Genossen möge seine Mission gelingen? Noch heute denke ich: Weil er dessen Demut vor der Verantwortung spürte, mit Wissen und Gewissen gerecht Macht auszuüben. Außerdem hatte er aus der Geschichte gelernt, dass die neue Zeit solchem Beginnen günstig war. Mittlerweile hatten sich auch weltweit die Flecken gedehnt, wo Linke das Regieren im Volksinteresse lernten.

Der DDR-Liedermacher Gerhard Schöne hatte in Nicaragua auf sandinistischen Foren erlebt, wie Führungskräfte aller Ebenen schärfste Bürgerfragen in brisanter Offenheit beantworteten. Diese Foren hießen „Mit dem Gesicht zum Volke“. Schöne machte den Slogan zur Headline eines Liedes, das er zu Hause als Hoffnung vortrug. Das Zuhause stürzte alsbald in großdeutsche Verhältnisse, in denen noch jede Regierung dem Volk janusköpfig ihre „schöne“ Seite zeigte, während sie mit der abgewandten hässlichen waltete. Dieses intrigante Spiel zu entlarven und ohne trügerische Hoffnung auf systemische Selbstheilung die Verhältnisse zu bekämpfen, in denen Volkes Interessen an staatslenkende Kapitalinteressen verraten werden – das musste und muss der Kern aufrechter linker Politik sein. „Mit dem Gesicht zum Volke“ heißt dann heute auch: Kein Appeasement, wo die alte Sehnsucht der Menschen nach sicherem Frieden und sozialer Gerechtigkeit, nach Beendigung des Rüstungswahns oder der Miseren im Wohnungs-, Infrastruktur-, Dienstleistungs- und Bildungssektor an der Trauer über den Ukraine-Krieg demagogisch abgeschliffen werden soll. Narrative der Ampel zur Bemäntelung ihrer Unfähigkeit, nicht allein in der Energie-, Wirtschafts- und Außenpolitik, müssen bis zur Kenntlichkeit entkleidet werden. Dabei liegen die Argumente auf der Straße. Die unbefugteste Parlamentspartei mästet sich an ihnen, und die befugteste im Überlebenskampf grenzt das Überzeugendste von sich aus. Ach, Antifaschist, wie wir dich in der Filmszene mit Hoffnung zurückgelassen sahen, sei froh, dass du das nicht erlebst!

Die Erfolgsgeschichte der kommunistischen Stadtchefin im österreichischen Graz indes würde dich erfreuen. Elke Kahr, zweiundsechzigjährig, in einer Arbeitersiedlung aufgewachsen und seit 1983 Mitglied der KPÖ, war zwölf Jahre lang Stadträtin, ehe sie 2021 das Amt der Oberbürgermeisterin in der zweitgrößten Stadt Österreichs annahm. Die KPÖ, sagt sie, sei seit Jahrzehnten die Wohnungspartei schlechthin. Sie habe die Ressortzuständigkeit für kommunale Wohnungen errungen und mehr als 1.500 Wohnungen gebaut. 1.000 Gemeindewohnungen sollen folgen. Wer ein Quartierproblem auf der Seele hat, klopft gern bei der KPÖ an. Und inzwischen nicht allein bei Mieterfragen. „Das wichtigste Bündnis ist das mit der Bevölkerung“, sagt die OB. Wenn Mehrheiten auf kommunalpolitischer Ebene nicht zustande kommen, stehen Volksbefragungen und Aktionen mit den Einwohnern auf der Tagesordnung. Elke Kahr selbst lebt in einer Mietwohnung. Ihr Gehalt von 8.300 Euro hat sie auf 2.000 Euro begrenzt. Den Rest spendet sie für soziale Zwecke. Manchmal muss der Industrielle in ihrer Sprechstunde warten, bis die Rentnerin gegangen ist. Beider Probleme wägt sie aber mit Wissen und Gewissen. Jeder kriegt einen Termin, jeder kann sie anrufen. Siehe da: Mit dem Gesicht zum Volke kann es linkerseits gelingen, eine starke – in Graz die stärkste – politische Kraft zu werden. Ganz ohne seine im Bürgertum diffamierte Gesinnung zu verleugnen. „Wir sind Kommunisten“, sagt Elke Kahr dem „nd“, „und wir verstecken uns nicht hinter irgendwelchen linken Formeln und Phrasen. Unser Ziel ist, in unserem Land Sozialismus zu erreichen.“

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"Mit dem Gesicht zum Volke", UZ vom 1. September 2023



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