Für Sidy und Lassana Dramé muss dieser Prozesstag unerträglich gewesen sein. Die beiden Brüder Mouhamed Lamine Dramés verfolgen das Gerichtsverfahren seit dem vierten Verhandlungstag. Sie sitzen den fünf Polizisten gegenüber, die wegen ihrer Beteiligung an dem Einsatz angeklagt sind, der für Mouhamed tödlich endete. Den siebten Prozesstag halten die Brüder des Opfers nicht durch. Sidy Dramé verlässt den Gerichtssaal während der Befragung des ersten Zeugen an diesem Tag. Ein Besucher, der sich um ihn kümmert, muss den Gerichtssaal über den Besucherausgang verlassen, einmal um das Gebäude herum gehen und zum Haupteingang hinein, um Sidy Dramé vor dem Gerichtssaal in Empfang zu nehmen. Lassana Dramé kommt nach der Mittagspause nicht zurück.
Maßgeschneidertes Manöver
An diesem 6. März sind zwei Zeugen geladen: Der Polizeibeamte A., der zum Tatzeitpunkt in derselben Dienstgruppe wie die Angeklagten arbeitete, und Beamtin K., die eine zivile Einsatzgruppe der Dortmunder Polizeiwache Nord leitet. Beide waren an dem Einsatz in der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth in der Dortmunder Nordstadt am 8. August 2022 beteiligt. Ihre Aussagen decken sich weitgehend mit denen der beiden Zivilbeamten, die am sechsten Verhandlungstag im Zeugenstand ausgesagt hatten. Mit Ausnahmen allerdings – die wirken wie ein maßgeschneidertes Manöver, um die angeklagten Kollegen zu entlasten.
Diese überraschenden Aussagen macht A. Er nahm in Uniform an dem Einsatz teil, ist aber nicht angeklagt. Sein Spitzname unter Kollegen ist „Apache“, stellt sich später in der Befragung von A. heraus. Vier Jahre lang war A. in der Dienstgruppe, der auch die Angeklagten angehören. Man kennt sich gut, den Dienstgruppenleiter Thorsten H. etwa seit 2017. H. ist wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung im Amt angeklagt. Nach Beamtenrecht droht ihm dieselbe Strafe wie dem Hauptangeklagten Fabian S., der mutmaßliche Todesschütze. Den kenne er seit 2016, sagt A., damals habe man gemeinsam „das Studium“ begonnen. Gemeint ist wohl das duale Studium an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW.
A. schildert den Einsatz, bei dem er im Streifenwagen von Thorsten H. mitfuhr. Er spricht nicht ganz so routiniert wie die beiden Beamten, die am sechsten Prozesstag ausgesagt hatten. Doch klingt auch A., als habe er seine Aussage auswendig gelernt. Ab und an gerät er etwas ins Stocken und setzt neu an. Dabei wirkt er wie ein Schüler, der ein langes Gedicht auswendig gelernt hat und beim Vortrag vor der Klasse merkt, dass er gerade eine Strophe ausgelassen hat. A. hat Details parat wie die Hausnummer, vor der er auf seine Kollegen getroffen ist. Früh schon erwähnt er den ersten Punkt, der von bisherigen Zeugenaussagen abweicht – und wohl auch von dem, was er nach dem tödlichen Einsatz bei der Polizei Recklinghausen ausgesagt hatte. Die war von der Staatsanwaltschaft Dortmund mit Ermittlungen beauftragt worden.
Angeblich „Messer bewegt“
Nach dem Versuch ziviler Einsatzkräfte, Mouhamed Dramé anzusprechen, habe der nämlich „das Messer bewegt“. „Zwei bis drei Mal“ sei dem 16-jährigen das Messer „fast heruntergefallen“, woraufhin der das wieder fester gegriffen habe. „Der war da, der hat was mitbekommen“, behauptet A. heute. Alle bisherigen Zeugen hatten ausgesagt, Mouhamed Dramé sei nicht ansprechbar gewesen und habe wohl nicht mitbekommen, was um ihn herum passierte. So hatte etwa der Zivilpolizist S., der Mouhamed Dramé wohl am nächsten gekommen war, in der Vorwoche gesagt, er habe das Gefühl gehabt, Mouhamed würde durch ihn hindurchschauen.
Der Jugendliche befand sich an jenem 8. August 2022 in einer psychischen Ausnahmesituation. Er lehnte vornübergebeugt an einer Kirchwand und hielt sich ein Küchenmesser an den Bauch. Der Leiter der Jugendhilfeeinrichtung hatte die Polizei gerufen, weil er und seine Kollegen die Situation nicht selbst klären konnten. Dass Mouhamed wohl Suizidgedanken hatte, wussten die angerückten Beamten.
Ausgeschaltete Bodycams
Auch A. wusste das. Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes, der als Vertreter der Nebenklage an dem Prozess teilnimmt, fragt ihn nach den Bodycams. Jeder der Polizisten, die in Uniform an dem Einsatz teilnahmen, soll eine solche Kamera getragen haben. Keiner soll sie eingeschaltet haben. Ob er wisse, wann eine solche Bodycam einzuschalten sei, fragt Feltes. A. kennt die Vorschrift: Bei Gefahr für Leib und Leben, sagt er auf, „oder auch bei Deeskalation“. Feltes fragt weiter: Ob A. im Nachhinein sagen würde, er hätte seine Kamera einschalten sollen? Das würde die Arbeit des Gerichts wohl erleichtern, glaubt A., „aber rechtlich gesehen nein“. Was denn konkret dagegen gesprochen hätte, will Feltes wissen. In manchen Situationen dürfe die Kamera nicht laufen, etwa bei „psychisch Kranken“, sagt A. Sei er also davon ausgegangen, Mouhamed sei psychisch krank? „Ich bin kein Arzt, das weiß ich nicht“, antwortet A. launisch.
Knapp über zwei Stunden lang wird A. befragt. Seine anfängliche Selbstsicherheit verpufft schnell, als ihn Richter, Staatsanwälte und Nebenklagevertreter befragen. A. wippt plötzlich mit den Füßen, weicht Fragen aus, gibt Sätze von sich, die keinen Sinn ergeben. Als die Strafverteidiger dran sind, fängt er sich wieder. Es wirkt, als habe er ihre Fragen erwartet.
A. scheint eine Agenda zu verfolgen. Besonders gewitzt stellt er sich dabei nicht an. Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm stellt ihm die naheliegende Frage, ob er sich besonders vorbereitet habe für seine heutige Aussage. „Gar nicht“, behauptet A., und etwas vorschnell schiebt er nach, er habe ja keinen Zugriff auf gewisse Protokolle. „Ihre Kollegen gucken da schon drauf“, sagt Richter Kelm, „das sollen sie ja auch“. „Ich nicht“, behauptet A. Auf die Frage von Oberstaatsanwalt Carsten Dombert, ob Mouhamed Dramé aufgefordert worden sei, das Messer wegzulegen, sagt A., der Zivilpolizist S. habe das auf Spanisch getan, „das habe ich gesehen“. Dass er kein Spanisch spricht, hatte A. zu einem früheren Zeitpunkt seiner Vernehmung eingeräumt.
Anders als alle anderen bisher vernommenen Zeugen behauptet A., das Pfefferspray, das seine Kollegin B. gegen den Jugendlichen eingesetzt haben soll, habe Mouhamed Dramé nicht richtig erwischt. Statt einem Strahl sei nur „Nieselregen“ bei ihm angekommen. Mouhamed sei dann direkt aufgestanden. Andere Zeugen hatten ausgesagt, Mouhamed habe sich nach dem Pfeffersprayeinsatz über Kopf und Gesicht gewischt. A. will gesehen haben, dass Mouhamed mit „zwei schnellen Schritten“ auf die Polizisten zugelaufen sei. Während seiner Befragung werden daraus „ein Schritt, eineinhalb“. Einer der Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung erinnerte sich hingegen an langsame Schritte, bei denen Mouhamed desorientiert und ziellos gewirkt habe.
Erinnerung plötzlich „viel lebhafter“
Als bislang einziger Zeuge will A. gesehen haben, wie Mouhamed Dramé das Messer hielt, als er auf die Polizisten zuging: Mit dem Daumen am Ende des Griffes, die Spitze nach unten zeigend. Bei seiner polizeilichen Vernehmung hatte A. hingegen angegeben, nicht gesehen zu haben, wie der Jugendliche das Küchenmesser hielt. Rechtsanwältin Lisa Grüter, die zusammen mit Thomas Feltes die Nebenklage vertritt, unterstreicht das später gegenüber der Presse. A. habe plötzlich in einem entscheidenden Punkt „eine viel lebhaftere Erinnerung“ gehabt. Und kommentiert: Es sei möglich, dass Erinnerungen überschrieben werden durch Dinge, die man später erfahren hat.
Wie alle Polizisten, die in diesem Prozess in den Zeugenstand gerufen werden, muss A. sich Fragen zur Verhältnismäßigkeit der gewählten Zwangsmittel stellen. Mit dem Pfeffersprayeinsatz habe man Mouhamed dazu bewegen wollen, sich an die Augen zu fassen und das Messer wegzulegen. Man habe, stottert A., befürchtet, dass „er sich selber mit dem Messer gefährdet“. Er sei gegen Tasereinsätze gegen Personen, die ein Messer hielten. Da habe er eine Hausarbeit drüber geschrieben. Thomas Feltes fragt A., ob er die Richtlinie der Polizei NRW für den Tasereinsatz kenne. „Ja.“ Feltes liest aus der Richtlinie vor: „Grundsätzlich nicht geeignet sind DEIG zur Bewältigung von dynamischen Lagen im Kontext von Bedrohungen oder Angriffen mit Hieb-, Stich-, Schnitt- oder Schusswaffen.“ DEIG steht für Distanzelektroimpulsgerät, so werden Taser auf Polizeideutsch genannt. Diese Richtlinie gelte aktuell, sagt Feltes, „Kennen Sie das nicht?“ „Nee“, sagt A. „Aber Sie nutzen Taser?“ A. bejaht.
Die Befragung von A. bringt ans Licht, dass er Arabisch spricht. Allerdings soll zu keinem Zeitpunkt des Einsatzes überlegt worden sein, ob er nicht in dieser Sprache Kontakt zu Mouhamed aufnehmen könnte.
Am Tag nach der Tat meldete sich A. krank, direkt nach seiner Befragung durch die Polizei Recklinghausen. Kurz darauf verließ er die Polizeiwache Nord. Ein Zusammenhang mit dem Einsatz bestehe nicht, behauptet er. Rechtsanwältin Grüter hält im daraufhin eine Nachricht aus einer WhatsApp-Gruppe vor, in der A. schrieb, nach den „Ereignissen“ brauche er „erstmal Abstand“. Ob das keine persönlichen Gründe seien, fragt Lisa Grüter. Nein, behauptet A., es sei ihm zu viel geworden, als „aus Zeugen Angeklagte wurden“.
Die Verhandlung an diesem siebten Prozesstag zieht sich. Das liegt auch daran, dass Richter Kelm die Prozessbeteiligten wieder zu sich nach vorne ruft, um ihnen Fotos des Tatorts zu zeigen. Am sechsten Verhandlungstag hatte er ausnahmsweise auf die im Gerichtssaal immer vorhandene Technik zurückgegriffen, um Bilder auf einem großen Bildschirm zu zeigen. Das erleichterte es Pressevertretern und Besuchern deutlich, dem Gesprochenen zu folgen.
Strafanzeige gegen einen Toten
Am frühen Nachmittag ruft Kelm Frau K. in den Zeugenstand. Sie nahm in zivil an dem tödlichen Einsatz teil, will aber mit dem Rücken zu ihren Kollegen gestanden haben, als die Schüsse fielen. Frau K. behauptet, gehört zu haben, wie Dienstgruppenleiter Thorsten H. während der Schüsse „Let your knife down!“ gerufen habe. Außer ihr hat bislang kein Zeuge angegeben, so etwas gehört zu haben.
Frau K. ist diejenige Beamtin, die nach der Tat Strafanzeige gegen Mouhamed Dramé gestellt hat – wegen „Bedrohung“. Richter Kelm und Oberstaatsanwalt Dombert zeigen sich verwundert, dass die Anzeige so ausführlich sei. Kelm will wissen, weshalb sie überhaupt Anzeige erstattet habe. Das sei „verpflichtend, wenn es zu Schusswaffeneinsatz gekommen ist“, behauptet Frau K. Später räumt sie ein, Thorsten H. habe gewollt, dass ihre Kollegen von der zivilen Einsatzgruppe Anzeige erstatteten. Sie habe daraufhin gesagt, sie mache das. Dafür habe sie Rücksprache mit den Kollegen der Polizei Recklinghausen gehalten. Thomas Feltes fragt sie, warum sie die Kollegen dort nicht mittels eines Einsatzprotokolls informiert habe. Frau K. zuckt mit den Schultern.
Als sie begann, die Strafanzeige aufzusetzen, habe sie nicht gewusst, ob Mouhamed schon tot war. Ob sie von seinem Tod erfahren habe, bevor sie die Anzeige fertig stellte, wisse sie nicht. Laut dem Solidaritätskreis Justice4Mouhamed war der Jugendliche zu dem Zeitpunkt bereits verstorben.
Rechtsanwältin Lisa Grüter zeigte sich nach dem siebten Verhandlungstag empört über die Strafanzeige. Gegen erschossene Personen müsse man kein Strafverfahren einleiten. Und wenn, hätte aus Gründen der Neutralität die Polizei Recklinghausen die Anzeige schreiben müssen. Die gebotene Neutralität jedoch habe man durchweg nicht ernst genommen. Zeuge A. wurde im Polizeipräsidium Dortmund vernommen, Zeugin K. in der Polizeiwache Nord.
Der Prozess wird am 13. März weitergeführt. Für den achten Prozesstag sind zwei Kommissar-Anwärter als Zeugen geladen, die bei dem Einsatz dabei waren.
Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.