… wenn dein starker Arm es will
„Allerdings ist … zu berücksichtigen, dass die Abwehr der Lohnsenkung von den Gewerkschaften aus verschiedenen Gründen nicht mit voller Kraft und mit voller Überzeugung geführt werden konnte: einmal aus taktischen Überlegungen …, weiter weil die Belegschaft der BVG nur zu einem Drittel gewerkschaftlich organisiert ist, schließlich weil die Arbeitsbedingungen der BVG-Arbeiter im Vergleich zu anderen Arbeitskategorien immer noch relativ günstig waren. “ Aus dem Berliner Tageblatt am 8. November 1932.
90 Jahre nach dem Streik der Berliner Verkehrsarbeiter, den „fünf Tagen, die Berlin erschüttern“, eine Bewertung eines Tarifabschlusses in der Metall- und Elektroindustrie im Jahre 2022 zu machen, scheint schwierig (nichts lässt sich außerhalb des historischen Kontextes bewerten) – aber nicht unmöglich.
Damals wie heute war der Kern der Situation die Abwälzung der sich ständig verschärfenden Krisenlasten auf die Werktätigen und wie der organisierte Teil der Klasse diesen Klassenkampf führt. Heute sind wir mit der Situation konfrontiert, dass die Inflationsrate sich bei über 10 Prozent befindet und nicht nur die Energiepreise explodieren, sondern in allen Lebensbereichen die Preissteigerungen die Menschen hart treffen. Damit zeigt sich, dass die aufgestellte Forderung nach 8 Prozent Lohnerhöhung für 12 Monate schon zu Beginn der Tarifverhandlung überholt war. Eine Reaktion darauf, ein flexibler Umgang mit dieser Forderung, fand bei der IG Metall nicht statt. Stattdessen wurde der Abschluss der Chemieindustrie als positives Beispiel herangeführt, insbesondere die Einmalzahlung von 3.000 Euro in den Mittelpunkt gestellt, die tabellenwirksame Lohnerhöhung war nur noch das Ende des Streits.
Nun muss man sagen: 3.000 Euro sind schon eine Ansage, davon können Studentinnen und Studenten mit einer Einmalzahlung von 200 Euro nur träumen. So wurde es scheinbar auch bei vielen Beschäftigten in den Betrieben aufgenommen – bis auf diejenigen, die diese (aufgesplittete) Zahlung in die richtige Relation setzen. Wir erinnern uns an die absolute Nullrunde während Corona, in der die IG Metall nicht einmal eine Forderung erhoben hat, wir erinnern uns daran, dass es seit April 2018 keine Erhöhung der tabellenwirksamen Löhne gegeben hat. Möge jeder selbst ausrechnen, was den Beschäftigten monatlich geblieben ist, wenn diese Einmalzahlungen auf diese Jahre verteilt werden. Das Statistische Bundesamt hat darauf eine klare Aussage: alleine im 3. Quartal 2022 lag der allgemeine Reallohnverlust bei 5,7 Prozent: „Darüber hinaus handelt es sich um den stärksten sowie langanhaltendsten Reallohnrückgang seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2008.“
So bleibt ab Mitte nächsten Jahres die wirkliche Lohnerhöhung, die in Summe – über 24 Monate – nicht ansatzweise an die eigentliche Forderung nach 8 Prozent für ein Jahr heranreicht.
Das Kernproblem bei diesem Abschluss ist aber für mich: Die IG Metall hat damit für zwei Jahre die Tore dicht gemacht dafür, das zu tun, was die Organisation der Arbeiterklasse tun müsste: sich dem Kampf gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Bevölkerung entgegenzustellen, Widerstand zu organisieren, Bewegungen zusammenzuführen. Das hätte zum Beispiel mit dem 22. Oktober beginnen können, wenn es denn gewollt gewesen wäre, aber eine Verbindung der Tarifauseinandersetzung mit dieser zarten Pflanze des organisierten Protests war gar nicht erst vorgesehen. Diese Diskussion in die Betriebe zu bringen und daraus Aktivitäten zu entwickeln scheint nun mit diesem Abschluss so gut wie aussichtslos. Es bleibt zu hoffen, dass die Tarifrunde der IG Metall nicht zum Vorbild für die nächsten Tarifverhandlungen genommen wird – das wäre fatal für andere Branchen, aber vor allem fatal für die gesamte Gewerkschaftsbewegung. Während Rekordgewinnen von Banken und Konzernen die notwendige Gegenwehr der Arbeiterklasse zu verhindern – das kann nur im Interesse der Herrschenden sein.
Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will? Eben: Wenn er will!
Axel Koppey, Vertrauensmann der IG Metall, Heidelberg
Überraschend schnell
Mit einer Forderung von 8 Prozent in der Auseinandersetzung zu stehen, wenn gerade mitgeteilt wird, dass die Inflationsrate bei 10,5 Prozent liegt, ist nicht besonders glücklich. Die Teilnahme an den Warnstreiks hat gezeigt, dass die Kolleginnen und Kollegen bereit waren, sich gegen den drohenden Reallohnverlust zur Wehr zu setzen. Nachdem erst gar kein Angebot von der Arbeitgeberseite kam und dann die 3.000 Euro vom Stützungspaket auf 30 Monate als Provokation hinterher, waren die meisten wohl überrascht, wie schnell danach ein Abschluss verhandelt und angenommen wurde.
Im IG-Metall-Werbeblatt steht, ihr bekommt:
- Februar 2023 18,4 Prozent Transformationsgeld
- bis Februar 2023 1.500 Euro Inflationsausgleichsgeld
- Mai 2023 50 Prozent Urlaubsgeld
- Juni 2023 5,2 Prozent mehr Geld
- Juli 2023 27,5 Prozent T-ZUG-A + 600 Euro T-ZUG-B
- November 2023 55 Prozent Weihnachtsgeld
- bis Februar 2024 1.500 Euro Inflationsausgleichsgeld
- Mai 2024 3,3 Prozent mehr Geld.
Da weiß man vor lauter Geld nicht wohin damit, könnte man meinen. Doch in 24 Monaten 8,5 Prozent bei in der gleichen Zeit circa 20 Prozent Inflation bedeutet letztendlich 11,5 Prozent Verlust. Das ist kein gutes Signal. Dass die anderen Gewerkschaften bei ihren jetzt anstehenden Verhandlungen mehr erreichen, ist zu wünschen, wird aber ein harter Kampf, der viel Solidarität von anderen braucht.
Marion Köster, Mitglied der IG Metall, Essen