Die Überschrift des Artikels veranlasste mich, zweimal hinzusehen. Nein, da ist kein Fragezeichen. Das BVG soll der Auffassung sein, die Hartz-Sanktionen seien verfassungswidrig, was sich aus Artikel 1 Grundgesetz ergibt.
Schon die vom Autor selbst zitierten Stellen aus dem schriftlichen Urteil machen stutzig. „Es ist dem Grunde nach unverfügbar …“ zitiert der Autor und hebt das auf den Podest. Zumindest jeder Jurist weiß, dass der Satz tatsächlich bedeutet: „Grundsätzlich gilt das Existenzminimum, aber …“ Es reicht eben nicht, vermeintlich passend Fortschrittliches aus dem Urteilstext zu lösen und am Ende hoffnungsfroh festzustellen, man müsse nur das Grundgesetz hochhalten, da die Einschränkungen der Menschenwürde sich ja nicht aus dem Grundgesetz ergeben. Letzteres ist schlichtweg falsch.
Die Menschenwürde in Artikel 1 Grundgesetz gilt nicht uneingeschränkt. Das wissen wir doch: Der Bundeswehrsoldat, der in Afghanistan für deutsche Kapitalinteressen fällt, der Untersuchungshäftling in einer 2×4-Meter-Mehrmannzelle – genießen die die Menschenwürde?
Der Begriff sagt gar nichts, also wird er – und das ist beabsichtigt – nach politischer Großwetterlage ausgelegt.
Der marxistische Philosoph Hermann Klenner sagt es treffend: „Verabsolutiert aber, im Raum- und Zeitlosen angesiedelt, sind Menschen- und Bürgerrechte im günstigeren Falle Selbstbetrug, sonst aber Fremdbetrug“. 30 Jahre im Justizapparat und 15 Jahre Ausbildung von Jura-Studenten in die Weihen der juristischen Auslegung belegen mir, Klenner hat Recht. Das Urteil des BVG ist natürlich zu begrüßen, ungefähr so, wie natürlich 10 Euro Mindestlohn besser sind als 8,50 Euro. Auch die 60-Prozent-Kürzungen sieht das BVG übrigens nicht als „verboten“an, in Randnummer 189 des Urteils heißt es, dass insoweit nur statistische Zahlen fehlen. Auf Deutsch: Liebe Bundesregierung, bring andere Zahlen, dann gehen auch 60 Prozent.
Absurd: Wir diskutieren um Abzüge unter Minimum, die es ja – ein Hoch auf Artikel 1 – nicht geben dürfte. Die Sanktionen beruhen auf dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und dem Rechtsmissbrauchsgedanken. Beides verortet das BVG ebenfalls im Grundgesetz (Artikel 20). Erkennen wir das nicht, drehen wir uns weiter im Kreise oder machen uns lächerlich.
„Die Verfassung“ von der wir gerne reden, gibt es schon lange nicht mehr. Der letzte Artikel im Grundgesetz (146) weist den Weg zur Überwindung unseres Problems.