Ausbildung in Einzelhandelsgeschäft mit Kontrollzwang

„Melden Sie umgehend Schmutzfinke!“

Von Horst Gobrecht

Wer meint, der seit jeher dumme Spruch, Lehrjahre seien keine Herrenjahre, finde in der heute „modernen“ betrieblichen Wirklichkeit keine Grundlage mehr, der hat sich geirrt. Werner K. (Name geändert), Auszubildender beim hessischen Kaufhaus Kirch GmbH in B. (Name geändert), hat einen Ausbildungsvertrag unterschrieben, der ihm offenbar schon vorbeugend jeden noch so beiläufigen Gedanken austreiben soll, ein Lehrling könne dort mehr an Freizügigkeit erwarten als im Jugendarrest vor hundert Jahren.

Der Ausbildungsvertrag umfasst auf zehn eng bedruckten Seiten insgesamt 54 Paragraphen, die Werner K. über alle möglichen Verbote und Einschränkungen informieren. Das ist wohl schon der erste Abschnitt seiner „Lehre“: bei der Kirch GmbH hat ein Auszubildender viel zu arbeiten, aber nichts zu lachen. Da Werner K. zu Beginn seiner Ausbildung und noch ein dreiviertel Jahr lang Jugendlicher, das heißt unter 18 Jahre alt war, hätte er die vereinbarten 42 Wochenstunden nicht arbeiten dürfen. Der sonst schon scheinbar ordentliche Inhaber des Unternehmens ließ ihn trotzdem keine Stunde früher gehen. Mehr noch: Werner K. arbeitete häufig mehr als 42 Stunden pro Woche, die ihm dann auf folgende Weise abgerechnet wurden:

Im Ausbildungsvertrag ist fürs erste Lehrjahr eine Vergütung von 650 Euro festgelegt. Dazu die Regelung: „Durch eine etwaige Zulage ist anfallende Mehrarbeit bis zur gesetzlichen Höchstarbeitszeit abgegolten.“ Die dadurch vereinbarte Anwendung der phasenweise nach dem Arbeitszeitgesetz für Erwachsene erlaubten gesetzlichen Höchstarbeitszeit von bis zu 60 Wochenstunden auf den Jugendlichen spricht für oder besser: gegen die Kirch GmbH. Deren Geschäftsleiter ist aber zudem wohl ein besonders „Schlauer“. Bei einer Monatsabrechnung zieht sie von der eigentlichen Ausbildungsvergütung 105 Euro ab, weist diese als „Mehr-/Überstundenzulage“ aus, so dass es schließlich heißt: Ausbildungsvergütung 545 Euro plus Mehr-/Überstundenzulage 105 Euro gleich 650 Euro. Wer so rechnet, macht als „ehrbarer Kaufmann“ immer seinen „Schnitt“.

Was der Auszubildende dadurch von seinem Chef lernt, hat dieser im Ausbildungsvertrag in die Worte gefasst, dass er sich selbst dazu verpflichtet fühle, „dafür zu sorgen, dass der Auszubildende charakterlich gefördert sowie sittlich und körperlich nicht gefährdet wird“. Als Beitrag zu solcher „Reife“ von Werner K. sollen augenscheinlich auch folgende Vereinbarungen beitragen, dass der Lehrling

– sich „zum Schutz des betrieblichen und persönlichen Eigentums mit Kontrollen einverstanden“ erklärt, „die sich auf Schränke, Spinde, Werkzeugkästen, Taschen, sonstige Behältnisse oder der eigenen Person“ erstrecken;

– beispielsweise bei „Verstößen gegen die betriebliche Ordnung die ‚innerbetrieblichen Bußen‘“ wie „Verwarnungen, Verweise, Personaleinkaufsverbote, Geldbußen“ usw. anerkennt;

– verpflichtet sei, „einen von eventuellen anderen Hausbriefkästen eindeutig unterscheidbar beschrifteten und frei zugänglichen Briefkasten zu unterhalten“, da „Briefe, die auf dem Postweg zugestellt“ würden, „am zweiten Tage nach der Absendung als zugegangen“ gälten;

– „alle Personen, die in seinem Haushalt angetroffen werden, zur Entgegennahme von Schreiben“, also auch den dabei zufällig anwesenden Schornsteinfeger oder Heizungsmonteur zu „bevollmächtigen“ habe;

– akzeptiere, dass „Piercings in der Nase, Zunge, Augenbrauen oder an sonst sichtbaren Stellen … ebenso untersagt“ seien wie „Turnschuhe, Stöckelschuhe, Boots, Pumps, offene Sandalen ohne Versenband“ sowie „Schuhe mit einer harten (und deshalb lauten) Sohle“;

– als verboten erdulden müsse, „eigenes Bargeld mit in den Verkaufsraum“ zu nehmen und „Zucker- oder coffeinhaltige Getränke sowie Lebensmittel jeder Art … außerhalb der Personalräume“ zu verzehren;

– seine Haare „geschlossen zu tragen“ habe, wobei „der Nacken und die Ohren frei sein“ müssten, und schon gar „keine Punkerfrisuren oder auffällig und unnatürlich gefärbte Haare“ erlaubt seien.

Ist der „Laufstall“ des Auszubildenden schon eng umzäunt, so sorgt sicher auch folgende Anweisung für ein reibungsloses Miteinander bei Strafe hochherrschaftlicher Nichtbeachtung: „Der Auszubildende verpflichtet sich, Notizen, Mitteilungen und Anträge stets auf DIN A 4 Blättern zu fertigen und abzugeben. Anträge an die Geschäftsleitung, die nicht auf DIN A 4 Blättern abgegeben werden, werden nicht bearbeitet.“ Zudem hat sich Werner K. vertraglich darauf eingelassen, dass er (und sonst niemand?) für „die Ordnung dort, wo er sich gerade befindet, verantwortlich“ sei. Das gelte „für jede Abteilung, das Lager, den Personalraum, die Hausanschlussräume und die Toiletten“. Damit der Lehrling und andere Beschäftigte, denen es bei der Kirch GmbH möglicherweise gleich ergeht, auch nicht vergessen, sich immer ihrer Pflichten und der unaufhörlichen Kontrolle des Chefs bewusst zu sein, enthält wohl jede Gehaltsabrechnung als dringliche Mahnung: „Achten Sie auf die Sauberkeit im Personalraum, der Küche und der -Toilette. Der letzte, der den Raum verlässt, schaltet das Licht aus und schließt Fenster und Türen. Melden Sie umgehend Schmutzfinke!“

Wer hätte das in einem der häufig hochgelobten, weil inhabergeführten mittelständischen Einzelhandelsunternehmen erwartet? Beim Wettbewerb, wer der charakterloseste und unsittlichste „Schmutzfink“ bei der Kirch GmbH sein könnte, hätte die Geschäftsleitung jedenfalls sicher die größten Gewinnchancen. Denn wer seine Auszubildenden vertraglich derart schikaniert, gängelt und zu demütigt, sie aber gleichzeitig noch um einen Teil ihrer sauer verdienten Ausbildungsvergütung bringt. dem ist dieser Titel wie auf den Leib geschnitten, weil er keine Lehrlinge fachlich ausbilden, sondern diese in erster Linie zu Knechten ihres „Herrn“ erziehen will.

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"„Melden Sie umgehend Schmutzfinke!“", UZ vom 7. Juli 2017



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