Am 26. April ist der Rechtsanwalt Rolf Geffken gestorben (UZ vom 12. Mai). Geffken schrieb bis 2021 Beiträge für die UZ – darunter eine Kolumne zu Fragen des Arbeitsrechts. Eine Liste der in dieser Reihe erschienenen UZ-Beiträge ist online abrufbar unter: kurzelinks.de/geffken. Wir dokumentieren an dieser Stelle seinen Beitrag aus der Ausgabe vom 27. August 2021, in dem er zur Frage der Meinungsfreiheit im Betrieb und zur „Treuepflicht“ von Beschäftigten Stellung bezog.
Es ist jetzt über 50 (!) Jahre her, dass ein Bankangestellter in seiner Freizeit in der Augsburger Innenstadt ein Extrablatt der UZ verteilt hatte, in dem „die Eingliederung der Bayrischen Staatsbank in eine private Superbank“ kritisiert worden war. Die „Superbank“ war der Arbeitgeber des Betroffenen. Sie kündigte das Arbeitsverhältnis mit ihm. Der Angestellte befand sich noch in der Probezeit.
Das Bundesarbeitsgericht entschied darauf in seinem berühmten „Maulkorburteil“ am 24. August 1972, dass er sich nicht auf seine Meinungsäußerungsfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz berufen könne, denn er habe seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis beachten müssen. Er dürfe „nicht den Interessen des Arbeitgebers zuwiderhandeln“. An dieser merkwürdigen Rechtsprechung hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert: Immer noch leitet diese aus dem angeblich „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis“ zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber ab, die dem Beschäftigten besondere Rücksichten gegenüber seinem „Patron“ abverlangt. Was dabei verschwiegen wird: Diese Rechtskonstruktion stammt aus dem „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ von 1934, das die „nationalsozialistische Betriebsgemeinschaft“ von Betriebsführer und Gefolgschaft postulierte. Der erste Präsident des BAG, Hans Carl Nipperdey, tat alles, um diese Konstruktion entgegen den klaren Aussagen der Verfassung in die Bundesrepublik hinüberzuretten. Und er und seine „Schüler“ waren damit jahrzehntelang erfolgreich, auch über seinen Tod hinaus.
Ein anderer Wind kam erst auf, als sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg 2011 dieser Problematik annahm. Vor allem bei der Bekanntmachung von gravierenden Missständen am Arbeitsplatz oder im Betrieb durch Strafanzeigen oder Veröffentlichungen sah der EGMR im Falle von Kündigungen die Meinungsäußerungsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention als verletzt an. In diesen Fällen des „Whistleblowings“ genüge sogar die bloße Vermutung des Arbeitnehmers, und zwar „allein schon wegen der jederzeit bestehenden Gefahr, dass bei Bekanntgabe von Einzelheiten dem Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber Nachteile zugefügt werden“.
Das BAG hatte bis dahin allen Ernstes vom Beschäftigten verlangt, Missstände, auch strafbare Handlungen des Arbeitgebers, erst diesem selbst (!) mitzuteilen, bevor er oder sie sich an die Öffentlichkeit oder sogar an die zuständige Staatsanwaltschaft (!) wenden durften. Das war pure Klassenjustiz, weil damit die Machtverhältnisse am Arbeitsplatz bewusst zugunsten der Unternehmen ignoriert wurden, ja sogar die im Rechtsstaat begründete Verpflichtung zur Anzeige von Straftaten faktisch aufgehoben wurde – zugunsten der Unternehmer! Die Altenpflegerin Brigitte Heinisch, die auf gravierende Missstände beim Berliner Klinikkonzern Vivantes aufmerksam gemacht hatte, kämpfte vor dem EGMR erfolgreich gegen ihre Entlassung. Inzwischen haben viele andere Länder eine eigene „Whistleblowing“-Gesetzgebung. Die Umsetzung einer entsprechenden EU-Richtlinie durch Deutschland ist immer noch nicht erfolgt. Aber auch unabhängig davon sollten sich Betroffene auf das Grundgesetz und die Menschenrechtskonvention berufen. Die Zeit der Maulkörbe ist vorbei.