Anmerkung der Redaktion:
Aufgrund des Redaktionsschlusses am Dienstag kann die weitere Berichterstattung über den Kongress erst in der nächsten Ausgabe der UZ erfolgen.
Das Motto des 5. Ordentlichen Bundeskongresses der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di): „zukunftsgerecht“ klingt vielversprechend. Es soll für die Fachgewerkschaft der Wegweiser für die nächsten Jahre sein. Rund 1 000 Delegierte vertreten mehr als 1 000 Berufsgruppen. Vom Banken- und Versicherungsgewerbe über den Energiebereich, den Einzel- und Großhandel, Gesundheitswesen, Medien, Kunst und Industrie sind alle unter einem Dach vereint.
Wie sich die Gewerkschaft wirklich „zukunftsgerecht“ aufstellt, wurden in Leipzig mit viel Elan diskutiert. Auf den vom ver.di-Bundesvorstand und Gewerkschaftsrat vorgelegten, in vielem immer wieder von Sozialpartnerschaft geprägten Geschäftsbericht, gab es über 30 Wortmeldungen. In der Aussprache zeigte sich ein starkes Bedürfnis nach Auswertung der vergangenen Arbeitskämpfe. Trotz der Kampfbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen führten die Tarifergebnisse nicht immer zum gewünschten Ergebnis.
Die eigene Wahrnehmung der in ver.di organisierten Beschäftigten in den Betrieben hat sich seit dem letzten Bundeskongress 2015 positiv verändert. Das zeigt sich vor allem im Kampf um einen Entlastungstarifvertrag für das Krankenhauspersonal. Die teilweise bis zu elf Wochen geführten Streiks in den Unikliniken wurden erst möglich durch breite Einbeziehung der Beschäftigten. Während dieser Arbeitskämpfe forderten die Streikenden mehr innergewerkschaftliche Demokratie und Mitsprache vor Ort ein. Sie stellten auf Streikdelegiertenkonferenzen zunehmend die Frage, wer wann und wie darüber entscheidet, wie ein Arbeitskampf geführt und ob ein Verhandlungsergebnis angenommen wird. Unterstützt wurden die Streikenden auf diesen Versammlungen von Betriebs- und Personalräten, die ebenfalls eine härtere Gangart und weniger Lobbyismus mit der Unternehmerseite oder deren Parteien von ihrer Gewerkschaft einfordern.
Alexandra Willer, Personalratsvorsitzende im Uniklinikum Essen, wies darauf hin, dass es eine breite Solidarität aus anderen Fachbereichen und auch außerhalb der Gewerkschaft gegeben habe. „Wir konnten die Streiks erfolgreich führen, weil wir auch auf die Marktplätze und in branchenfremde Betriebe gingen.“ Mehrere Kolleginnen und Kollegen forderten dem Beispiel der Unikliniken zu folgen. Unterstützung bekam sie dabei von Denis Schatilow. Der ehemalige Auszubildende des Uniklinikums Düsseldorf kann Erfolgreiches vorweisen. Durch Einbeziehung der Azubis in die Arbeitskämpfe und tatkräftige Unterstützung erreichte ver.di auch dort einen Tarifvertrag, indem die Azubis eine Vergütung bekommen. Bis 2018 gab es hierfür keinen Cent.
Ein weiteres Thema in Leipzig ist die Tarifflucht der Unternehmer. Die haben durch die gesetzlichen Grundlagen der Politik und deren bürgerlichen Parteien freie ungehinderte Möglichkeiten. Seit Jahren sinkt die Tarifbindung nicht nur im ver.di-Organisationsbereich dramatisch ab. Im Jahre 2001 waren noch rund 71 Prozent der Beschäftigten im West- und 51 Prozent im Ostdeutschland durch Tarifverträge geschützt. 2018 sind es nur noch 56 Prozent im Westen und 45 Prozent im Osten. Für die Beschäftigten in der Privatwirtschaft sieht das noch schlechter aus, da im Öffentlichen Dienst überwiegend tarifgebunden gearbeitet wird.
Gestritten wird auch über die künftige Aufstellung der zweitgrößten deutschen Einzelgewerkschaft. Delegierte erklärten auf Nachfrage, dass sie nicht davon überzeugt sind, dass ihre Gewerkschaft stärker wird, wenn von ehemals dreizehn zukünftig nur noch vier Fachbereiche übrigbleiben. Befürchtet wird, dass mit den Strukturveränderungen die in den letzten Jahren erreichten Fortschritte für eine demokratischere ver.di wieder schwieriger werden. Mit der Fusion wird es langfristig auch weniger Fachbereichsleiter geben. Am Ende bleiben Allrounder, die Hunderte von Branchen betreuen und deren Tarifabschlüsse kennen müssen. Schon heute sind Fachbereichsleiter und Sekretäre durch die Umstrukturierung „Perspektive ver.di wächst“ stark überlastet. Ergebnis: Die betriebliche Unterstützung in der Fläche bleibt auf der Strecke. Abgesehen von Kosteneinsparungen durch Aufteilung der Mitgliederzahlen per Rechenschieber auf fast vier gleichgroße Fachbereiche bleibt die Frage, wieso sich mit dieser Umorientierung die Kampfbedingungen der Lohnabhängigen in diesem Land verbessern sollten.
Aus Bayern und Niedersachsen berichten Kongressteilnehmer über nachlassende ehrenamtliche Arbeit in verschiedenen Gremien und Ebenen der Organisation. Die beiden Landesbezirke gehörten zu den Pilotlandesbezirken, die seit Ende 2015 die Trennung der kollektiven und individueller Gewerkschaftsarbeit einführten. Die Stärke einer Gewerkschaft zeigt sich gerade darin, ob es gelingt, Mitglieder betrieblich sowie überbetrieblich einzubinden. „Da die Umstrukturierung von ver.di jedoch die Organisationsbereiche verändert und Bezirke vergrößert, wird vieles schwieriger. Mitglieder und ehrenamtliche Kolleginnen und Kollegen haben weitere Wege zu bewältigen. Dies alles wirkt sich negativ auf ehrenamtlichen Strukturen aus“, so Delegierte gegenüber UZ.
ver.di sieht als Hauptaufgabe die Mitgliederentwicklung. Aktuell liegt die Mitgliederzahl knapp unter zwei Millionen. Gegenüber dem Vorjahr gibt es erneut rund 20000 Mitglieder weniger. Im vergangenen Jahr führte ver.di 129 Arbeitskämpfe. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, neue Mitglieder zu werben. Trotzdem reicht es nicht für eine Steigerung der Mitgliederzahlen, da ein nicht geringer Teil die Gewerkschaft innerhalb der ersten fünf Jahre wieder verlässt. Frank Bsirske veranlasste dies, an die betrieblichen Interessenvertreter zu appellieren, ver.di wieder mehr in die Betriebe zu tragen: „Organisation ist alles“. Auszubildende und Beschäftigte müssen angesprochen werden, welche Vorteile es hat, Gewerkschaftsmitglied zu sein.
Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, sprach sich bei der Eröffnungsveranstaltung am Sonntag gegen eine weitere Aufrüstung aus. „Statt immer mehr Geld in Waffen zu stecken, sollte endlich Schluss damit sein, dass die Bundesregierung der Zielvorgabe der Nato hinterherrennt, dass wir zukünftig zwei Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes ausgeben. Das würde eine Steigerung von rund 30 Milliarden Euro bedeuten. Dieses Geld ist dringend notwendig für öffentliche Investitionen“.
Hoffmann wies auf die Einkommensungleichheit in Deutschland hin. Seit Anfang der 90er Jahre ist diese ständig gestiegen. „Immer mehr Menschen spüren, dass es bei uns nicht mehr gerecht zugeht“. Deshalb hätten immer mehr Menschen Sorge, laufende Kosten wie Mieten nicht mehr zahlen zu können.
Der 5. Ordentliche ver.di-Bundeskongress tagt noch bis 28. September.