Zu Ingo Schulzes neuem Roman „Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“

Mehr als ein Schelmenroman

Von Rüdiger Bernhardt

Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2017, 574 S., 22.- Euro

Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2017, 574 S., 22.- Euro

Der Erzähler im Roman ist Peter Holtz, geboren am 14. Juli 1962, dem Jahrestag der Erstürmung der Bastille in der Französischen Revolution. Das Datum ist ihm zugeordnet worden, denn eigentlich wurde er am 12. Juni 1962 geboren. In der DDR wurde 1962 die Wehrpflicht eingeführt und im Dezember des Jahres fand die legendäre Lyrikveranstaltung in der Akademie der Künste unter Stephan Hermlins Leitung statt. Bei Ingo Schulze sind solche Beziehungen ernst zu nehmen, sie haben Bedeutung. Peter Holtz wurde am Jahrestag einer Revolution geboren und bewegt sich auch so. Er wuchs – scheinbar – als Waise in einem Kinderheim auf: Die Eltern kamen – angeblich – bei einem Autounfall ums Leben, hatten aber ihr Kind um der eigenen Interessen willen bei ihrer Flucht in den Westen zurückgelassen. Das Kinderheim hieß „Käthe Kollwitz“, ein Name, der politische Haltung und große Kunst signalisiert und im Roman immer wieder erinnert wird. Die Namensgebungen im Roman weisen auf eine Besonderheit des Autors hin: Namen erscheinen authentisch und fiktiv, wodurch der Eindruck von Wirklichkeit entsteht. Dazu dienen auch zahlreiche Hinweise auf Politiker, Künstler und andere Zeitgenossen.

Peter Holtz ist ein Kons­trukt: Sein Vorname bedeutet „Fels“ und erinnert an Petrus, in seiner Naivität auch an Else Lasker-Schülers St. Petrus in ihrem „Peter Hille-Buch“ (1906) – auch eine Episodenhandlung am Schlachtensee scheint daran zu erinnern! –, der Familienname „Holtz“ Härte, Leben, etwas Starrsinn, auch umgangssprachlich „Vermögen“. Aufgewachsen im Heim fehlt ihm eine Familie und er ist die Verkörperung politisch-gesellschaftlicher Vorstellungen, wie sie im Heim galten. Ergänzt wird die Erziehung durch geschichtliche Daten, so wenn F. J. Strauß den chilenischen Diktator und Verbrecher Pinochet bittet, „die Freiheit“ in seinem Land zu erhalten (148) und so ein Eindruck davon entsteht, was westdeutsche Politiker unter Freiheit verstehen, oder wenn Peter über die Verbrechen Stalins informiert wird, von denen man ihm bisher nichts gesagt hat.

Aus dem Kinderheim ist Peter aufgebrochen, um den früheren Heimleiter Paul Löschau (1900–1973), einen alten Spanienkämpfer und KZ-Häftling aus Dachau, zurückzuholen, der vorbildhaft für die Zöglinge war. Erst später erfährt Peter, dass es sein Großvater ist. Die Richtung seiner Suche und seines Lebens gibt ihm seine anerzogene Überzeugung: Wolkengebilde erscheinen schon einmal als die „Vorkämpfer“ Thälmann, Luxemburg oder Lenin. Konsequent versucht er diese Einstellung zu leben: Essen in der Gaststätte muss nicht bezahlt werden, weil ja im Sozialismus alles der Gesellschaft gehöre. Damit beginnt der Roman, der ihn zur Familie Grohmann führt, die auf einen Antifaschisten zurückgeht, der während der Naziherrschaft in Mexiko war. Danach hießen Schulen, Straßen u. a. nach ihm.

Peter wendet das Gelernte und Verinnerlichte uneingeschränkt an und gerät ständig mit der Wirklichkeit in Konflikte. Zum Modell seines Handelns wird Ostrowskis Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“, dessen Pawel Kortschagin wird sein Spitzname, einmal bei der Stasi, zum anderen im alltäglichen Leben. Danach handelt er, wenn er selbstlos hilft, so das heruntergewirtschaftete Haus, in dem er wohnt, ohne Gegenleistung wiederherstellt, wofür er dann das Haus, danach weitere Häuser, geschenkt bekommt. Die Menschen seiner Umgebung halten ihn für einfältig oder einen „Holzkopf“ (43, 109). Ein Schelm ist er nicht. Er nimmt jedoch den Kampf mit allen Haltungen auf, die nicht seiner sozialistischen entsprechen: Es sind offen und ehrlich geführte Auseinandersetzungen, in denen beschrieben wird, wie die DDR funktionierte, wie die Christen ihre Rechte hatten, aber wie auch der Geheimdienst seine Informationen sammelte, dass es Indianerfiguren gab und Schallplatten von Jimi Hendrix. Peter bringt dazu Versatzstücke aus der Liederbewegung ein („Sag mir, wo du stehst!“) und erfindet den Ost-Punk mit der Verwendung des Moorsoldaten-Liedes. Ihm gelingen in seinen Auseinandersetzungen mit anderen eindrucksvolle Bestimmungen, so z. B. eine Abgrenzung vom Christentum, dem er sich zeitweilig zuwendet: „Der Kommunismus braucht offene, lebensfrohe, gebildete, großherzige Menschen, die füreinander da sind, die sich aus freien Stücken, weil es ihnen ein Bedürfnis ist, solidarisch verhalten und nicht aus Berechnung, um sich nach dem Tod irgendeinen Vorteil zu sichern!“ (72) Den Geheimdienst nimmt Peter so ernst und verkündet seine Mitarbeit, dass dieser sich von ihm trennen muss, weil alle Geheimhaltungen auffliegen nach dem Motto Peters: „Konspiration ist das Letzte, was der Sozialismus braucht.“ (109) Was Peter verkündet sind historische Wahrheiten, so wenn er die Nutznießer an Hitlers Krieg auflistet: Krupp, Flick, Thyssen usw. Das kommt im Kleid der Argumentation aus der DDR daher, ist aber nicht falsch. In lapidarer Kürze werden historische Tatsachen verkündet, die auch durch die Überlagerung mit Peters Radikalität nichts an ihrer Wahrheit verlieren. Was 1989 geschieht, wird von Peter als Konterrevolution gewertet. Aber ehe er die Umbrüche insgesamt erlebt, verunglückt er, als er ein Paar Kinderhandschuhe von der Straße retten will, fällt ins Koma und ist während der nächsten Zeit 1989/90 bewusstlos.

Das Buch wird in den Kritiken als Schelmenroman bezeichnet; die Kapiteleinführungen scheinen das zu bestätigen. Die Heiterkeit eines Schelmenromans hat er indessen nicht, vielmehr macht vieles von dem, was Peter erlebt, zornig und wütend. Schelmenroman ist nur bedingt verwendbar; Ingo Schulz erklärte im Gespräch, dass es um einen Entwicklungsroman gehe. Das wird ihm doppelt gerecht, denn es geht um die Entwicklung von Peter Holtz und um die Entwicklung der sozialistischen Idee, die Peters Handlungen immanent ist. Beide Entwicklungen werden behindert bzw. abgebrochen durch die nach 1989 erneut einsetzende Herrschaft des Geldes: Peter tritt als Zwölfjähriger in die Handlung ein; er hat gelernt, dass im Kommunismus Geld bedeutungslos geworden ist und will dieses Wissen vorschnell anwenden. „Geld“ gehört neben „Kommunismus“ und „Kapitalismus“ zu den Leitbegriffen des Romans.

Mit dem Hinweis auf den Schelmenroman wird gegenüber der Kritik ein Schutzschirm begründet, zu dem man sicher auch die Längen und teils abstrakten Diskussionen über ökonomische Vorgänge rechnen muss. Darunter lassen sich historische Wahrheiten, die sonst verdammt werden, immer wieder sagen, auch jene über Kommunismus und Kommunisten, die „danach gestrebt haben, Kommunisten zu sein, dass der Kommunismus etwas in der Zukunft gewesen wäre, etwas, worauf sich die Gesellschaft zubewegen sollte“ (420). Schulze hat in diesen einen Satz seines Peter Holtz mehr Verständnis für den Kommunismus hineingelegt als der „Historiker“ Gerd Koenen in sein über tausendseitiges Pamphlet „Die Farbe Rot“ (2017), das dem Kommunismus jedes utopische Moment ebenso abspricht wie es den Zusammenbruch des Sozialismus auf die „moralischen Ermüdungsbrüche in den Machtzentren“ des Sozialismus zurückführt und damit alle nachweisbaren Fakten der systematischen Zerstörung und verbrecherischen Angriffe durch den Kapitalismus, auf die deren Organisatoren heute stolz sind, leugnet. Von anderen historischen Absonderlichkeiten, wie der, dass der europäische Sozialismus in der deutschen Sozialdemokratie sein Zentrum gehabt hat, als hätte es die Parteitage von Halle 1890 und Erfurt 1891 nicht gegeben. Fakten sind Koenens Sache ebenso wenig wie eine dialektische Geschichtsbetrachtung, schon bei der Verwendung des Begriffes Kommunismus nicht, der Jahre vor Marx bereits von den Junghegelianern wie Ruge und Echtermeyer ebenso verwendet wurde wie von deutschen Dichtern wie Herwegh u. a. Auch von Literatur weiß Koenen wenig, wie sein Verdikt über Majakowski und der Verzicht auf alle anderen Schriftsteller beweist, die den zukunftweisenden Charakter des Kommunismus thematisierten wie Scholochow und andere. Ingo Schulze ist sehr viel genauer.

Für seinen Peter Holtz ist das politische und geistige Zentrum des Kapitalismus das Geld: „Geld und Besitz sind der Schlüssel für alles, für Macht und Luxus, Bildung und Unterhaltung, für Ruhm und einen Platz in den Geschichtsbüchern der Reichen.“ (282). Ihm gehört in dem Roman, zieht man die Schutzfolie des Schelmenromans ab, die volle Aufmerksamkeit. Alles, was Peter erlebt, vor 1989 bedingt und nach 1989 uneingeschränkt, wird vom Geld bestimmt, das sich bei Peter durch die einst wertlosen maroden Immobilien, um die er sich gekümmert hatte, in Massen einstellt. Alle Versuche, dieses Geld loszuwerden, um seine wirkliche Freiheit wiederzugewinnen und die reine Idee zu verwirklichen, alle Experimente „zur Herstellung von Gerechtigkeit“ (533) scheitern. Bis zum Ende der neunziger Jahre versucht Peter, die kapitalistischen Verhältnisse für seine Ideen zu nutzen, bekommt viel Geld und gibt es bereitwillig aus, um Arbeitsplätze zu retten, Menschen zu helfen, „etwas auf(zu)bauen, das der ganzen Gesellschaft zugutekommt!“ (473) usw. Am Kapitalismus ändert sich nichts. Deshalb endet der Roman scheinbar wie ein Schelmenroman, tatsächlich aber als großartige Satire: Peter verbrennt Vermögen zuerst in einer Kunstaktion – artprototo –, die ihm jedoch verfilmt noch mehr Geld als zuvor bringt. Schließlich beendet er den Kreislauf des Geldes am 1. September 1998 auf dem Berliner Alexanderplatz an der Weltzeituhr – Verneigung vor Eberhard Hilschers gleichnamigem großartigen Roman? –, um in der Gesellschaft anzukommen. „Schon wenige verbrannte Scheine haben ausgereicht, die ganze Schwäche unserer Welt zu offenbaren.“ (571) Das aber macht ihn zum Geisteskranken und zum „ersten ökonomischen Häftling“.

Am Ende muss der Leser Schulzes Motto nach Péter Esterházy ernst nehmen: Es geht um eine andere Familiengeschichte, die weder Auferstehung noch Erlösung, weder Freiheit noch Solidarität kennt, solange die Herrschaft des Geldes, der beherrschende Gott des Kapitalismus, regiert.

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"Mehr als ein Schelmenroman", UZ vom 27. Oktober 2017



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