„Honeyland“ jetzt auch fürs Heimkino

Mehr als ein Ökomärchen

Ein verstaubter PKW mit Wohnwagen rumpelt über einen unbefestigten Pfad zu einem Bergdorf im Nordosten Mazedoniens, während am klaren blauen Himmel ein Flugzeug Kondensstreifen zieht. In einem Vorortzug sitzt ein junger Punk mit steiler Irokesenfrisur neben einer etwa 55-jährigen Landfrau mit seltsamem Gepäck. Bilder aus einem Land der Anachronismen, in dem die Zeit stillzustehen und selbst die Katzen zu schlafen scheinen. Die Frau ist Hatidze Muratova, eine türkischstämmige Imkerin und die Hauptfigur in dem vielfach preisgekrönten Dokumentarfilm „Honeyland“ von Tamara Kotevska und Ljubomir Stefanov. Deren Regie lotet die Grenzen des Genres so weit aus, dass seine Handlung sich auch wie ein Spielfilm oder ein Ökomärchen erzählen ließe.

In Hatidzes Dorf führt keine Straße. Hier lebt nur sie mit ihrer todkranken Mutter, ihre Brüder leben anderswo in der Umgebung. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie mit ihrer so mühe- wie liebevoll betriebenen Wildbienen-Imkerei. Die bringt auf dem Markt in der Hauptstadt Skopje guten Erlös, so dass sie von ihren Fahrten dorthin auch mal kleine „Luxusgüter“ wie Bananen mitbringen kann. Ihr ruppiger Ton, wenn sie die Mutter wie ein Baby löffelweise füttert, täuscht Unwilligkeit vor – sie würde die Mutter nie im Stich lassen.

Auch als mit Caravan und LKW eine türkische Nomadenfamilie mit sieben Kindern ins Dorf rollt, die sich dort niederlassen und auch Imkerei betreiben wollen, bleibt Hatidze freundlich und gibt dem neuen Nachbarn Sam gute Ratschläge. Selbst kinderlos geblieben, liebt sie es, mit Sams Kindern zu spielen und sie in ihre Imkerei einzuführen. Aber der Imkererlös, der für zwei reichte, reicht nicht für Sams neun, und so lässt der sich zu einem folgenschweren Fehler verleiten: Statt wie üblich den Bienen eine Hälfte ihres Honigs zu überlassen – das hält sie davon ab, andere Bienenvölker anzugreifen –, setzt Sam aufs schnelle Geld und verkauft alle Waben. Der Konflikt mit Hatidze ist damit unvermeidlich.

1994 hatte der aus Skopje stammende, aber seit 1985 in New York lebende Regisseur Milcho Manchevski für „Before the Rain“ eine Oscar-Nominierung erhalten. Mit seiner doppelten Oscar-Nominierung für „Honeyland“ kam das kleine Balkanland Mazedonien 2019 wieder ins Blickfeld der Cineasten, diesmal mit einem im eigenen Land produzierten Film. Der Film hat bei internationalen Festivals gehörig und zu Recht „abgeräumt“, bisher sind es allein über 25 Preise und unzählige Nominierungen, darunter so wichtige Auszeichnungen beim Sundance Film-Festival. Leider verschwand der Film schon im November viel zu früh aus den deutschen Kinos, nun ist dieses Kleinod wenigstens im Heimkino wieder zu besichtigen – wie passend zur Diskussion um das Spannungsfeld zwischen nachhaltigem und profitorientiertem Wirtschaften in Zeiten von Corona.

Schon die ersten Bilder aus dem Halbdunkel von Hatidzes spärlich erleuchteter Hütte oder eine Kamerafahrt, die ihr an steilem Abhang auf dem Weg zu ihren in Felsspalten lebenden Bienenvölkern folgt, geben einen Eindruck von ihrem fast archaischen Verhältnis zur Natur. Mit ihren Warzen, ihren runzligen Zügen und ihrem eher murmelnden Gesang ist sie alles andere als eine Schönheit. Umso erfreulicher, dass die Regisseure, die eigentlich nur einen kurzen „Kulturfilm“ über die Gegend drehen sollten, das Potenzial dieses Stoffes erkannt haben. Für Tamara Kotevska ist ihr Film denn auch ein Beispiel dafür, dass eigentlich jeder Mensch zum Protagonisten im Dokumentarfilm taugt, wenn man ihm nur mit der nötigen Offenheit und Sensibilität entgegentritt. Eine Lektion, die man hier mit Vergnügen lernen kann in 85 Minuten. Bestellmöglichkeiten über „Neue Visionen Filmverleih“ als DVD und VoD.

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"Mehr als ein Ökomärchen", UZ vom 1. Mai 2020



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