Es ist sehr bedauerlich, nicht mehr erfahren zu können, wie sich wohl „unsere“ Klassiker Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Lenin zur geopolitischen Lage der heutigen Welt positioniert hätten. Einer Welt, in der in Ländern wie China, Vietnam, Nordkorea, Kuba und Laos eine Kommunistische Partei die Zügel in der Hand hält, die Bevölkerung auf den Weg in den Sozialismus mitnimmt und diesen gestaltet.
Fast alle diese Länder bezeichnen sich selbst als sozialistisch, andererseits aber lassen sie das Privateigentum an Produktionsmitteln zu. Das passt für viele in der DKP anscheinend nicht zusammen. Natürlich wäre auch die Frage „War die DDR ein sozialistischer Staat?“ erlaubt, würde sich aber vom vorgegebenen Thema zu weit entfernen.
Ein langer Weg
Wie erreichen wir nun das gemeinsame Ziel – den Sozialismus? Um diese Frage zu beantworten, ist es aus meiner Sicht unabdingbar, in aller Offenheit all die Gewissheiten über den Sozialismus, die uns die Klassiker an die Hand gegeben haben, zu überprüfen. Was sie uns an die Hand gaben, ist kein Dogma! Denn es lässt sich wohl nicht bestreiten, dass sich die Welt auch nach Marx, Engels und Lenin weiter dreht und sich weiter entwickelt. Es finden rasante Veränderungen – geopolitische Veränderungen – statt, die eventuell noch nicht jeder Genosse und jede Genossin verinnerlicht haben. Möglich auch, dass stur am Denken festgehalten wird.
Bis 1990 war für uns völlig unstrittig: Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Diktatur des Proletariats – das waren die Kriterien, die die Klassiker des Sozialismus herausgearbeitet hatten. Alles war so einfach: Die Sowjetunion gab den Weg vor, wir folgten. Und nun? Wie sollen wir mit China umgehen?
Weder im alten Russland noch im vorrevolutionären China, nicht in Kuba und auch nicht in Vietnam konnte eine sozialistische Gesellschaftsordnung auf der Grundlage einer modernen Industrie aufgebaut werden. Der Feudalismus und auch das folgende Bürgertum hatten katastrophale Verhältnisse hinterlassen – und die Kommunistischen Parteien sollten diese jetzt ohne Schwierigkeiten, ohne vorhandenes Kapital in paradiesische Zustände umwandeln? Das anzunehmen ist albern.
Also blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als unter den vorgefundenen Bedingungen erst einmal für die Lebensgrundlagen der Menschen zu sorgen. Das heißt, sie müssen den Kapitalismus sukzessive (es ist ein sehr langer Weg) in eine sozialistische Gesellschaftsordnung überführen. Dabei stellte sich das Problem des Fehlens eines gesellschaftlich und fachlich breit entwickelten Proletariats, das aufgrund des eigenen Wissens und der eigenen Erfahrung aus dem kapitalistischen Produktionsprozess in der Lage gewesen wäre, die Produktion zu übernehmen und weiterzuentwickeln. Ein solches Proletariat war in China überhaupt nicht vorhanden. Der überwiegende Anteil der Bevölkerung waren Bauern und Analphabeten (oder beides in einer Person). Man musste den Sozialismus aufbauen mit den Kräften, die man vorfand. Denn es gab dazu keine Alternative, wollte man nicht die alten Verhältnisse wieder aufleben lassen, denen man doch gerade durch die Revolutionen und Befreiungskriege zu entkommen versucht hatte. Das galt – nebenbei gesagt – auch für alle anderen Länder, die sich auf den Weg zum Sozialismus machten. Kann, wer will, bei Lenin nachlesen (Einführung der NÖP).
Hinzu kommen, das will ich kurz erwähnen, die permanenten Versuche der kapitalistischen Staaten, diese Länder mit Krieg, Sanktionen und Militärstützpunkten rund um diese Staaten in der Entwicklung zurückzudrängen oder gar alles rückgängig zu machen.
800 Millionen Menschen aus der Armut befreit
In den 1970er Jahren öffnete sich China dem westlichen Kapital. Der chinesischen Regierung unter Führung der Kommunistischen Partei ging es darum, die eigene Wirtschaft zu entwickeln, um die rasant wachsende Bevölkerung zu ernähren. Denn Sozialismus ist nicht nur eine Idee, er ist auch eine Hoffnung auf ein besseres Leben. Und die chinesischen Kommunisten waren auf der Suche nach dem besten Weg. Es gab Rückschläge, es gab ein Vorwärts. Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück.
Die Hoffnung auf den Sozialismus, auf ein besseres Leben muss sich bestätigen – tagtäglich –, sonst verliert der Sozialismus wie jede andere gesellschaftliche Ordnung den Rückhalt in der Bevölkerung und damit seine Existenzberechtigung. Armut ist für nichts gut. Wie wichtig gerade dazu die Kapitalbasis als Voraussetzung für die gesellschaftliche Entwicklung ist, zeigt in eindrucksvoller Weise gerade China. Nirgendwo hat der Zustrom von Kapital solch gewaltige Erfolge hervorgebracht wie in einer Gesellschaft, die sich als sozialistisch versteht und von einer Kommunistischen Partei geführt wird. Ähnliches gilt auch für Vietnam.
Nun versucht der „Wertewesten“, da die Entwicklung in China anders verläuft als gewünscht, den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes zu bremsen, ja völlig zu eliminieren. Die westliche Propaganda verblödet die Hirne ihrer Bevölkerungen. Es wird vermittelt, Sozialismus bedeute Armut! Und dann schafft es China in historisch kurzer Zeit, rund 800 Millionen Menschen aus der absoluten Armut zu befreien. Die westliche Propaganda passt sich an und vermittelt nun, dass ausschließlich das Privateigentum in China für diesen kolossalen Aufschwung sorge. Es darf nicht der Eindruck entstehen, die Kommunistische Partei und der Fleiß der Chinesen seien die Ursache dieses Aufstiegs, dieses Reichtums.
Der Marxismus-Leninismus verteufelt aber das Privateigentum. Also muss die chinesische Politik falsch sein. Diese Herangehensweise bezeichne ich als „dogmatisches Denken“, denn unsere Klassiker passen nicht so recht als Kronzeugen. Ich versuche es zu erläutern:
Akkumulation ist zum Aufbau einer modernen Industrie unabdingbar, nicht aber der Kapitalismus. Das muss unterschieden werden. Auch China produzierte vor dem Kapitalstrom aus dem kapitalistischen Ausland und entwickelte seine Industrie und Gesellschaft. Die Sowjetunion hatte ihre Produktion nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs immerhin ganz ohne westliches Kapital wieder aufgebaut und das sogar trotz der kostentreibenden militärischen Bedrohung durch die NATO und andere antikommunistische Bündnisse.
Kein Abgleiten in kapitalistische Verhältnisse
Aber, und das ist ein wichtiger Hinweis: Ausländische Investitionen, Investitionen generell, beschleunigen die Entwicklung, will man nicht in Rückständigkeit verharren. Aber die Akkumulation kann die Arbeitskraft, das Schöpfertum der Menschen nicht ersetzen.
Akkumulation ist also wichtig für den Aufbau und die Ausweitung der Produktion. Aber deswegen sind das Vorhandensein von Kapitalisten und deren Investitionen nicht gleichzusetzen mit dem Kapitalismus selbst. Es sieht nur so aus, als hätte mit dem Zustrom beziehungsweise der Zulassung von Kapitalisten auch der Kapitalismus selbst Einzug in China gehalten. Aber dieser Schein trügt. Es ist nur Schein, nicht das Wesen der Entwicklung.
Ich bin der Ansicht, dass die chinesischen Kommunisten sehr wohl wissen, dass es ein Tanz auf der Rasierklinge ist, aber ich sehe keinerlei Anzeichen für ein Abgleiten in kapitalistische Verhältnisse, denn es fließt zwar privates Kapital in den Aufbau privater Unternehmen in einer Gesellschaft, die auf dem Weg zum Sozialismus ist. Das scheint für viele Genossen unverständlich und ein Widerspruch zur reinen Lehre. Für viele ist das gleichbedeutend mit Verrat am Sozialismus, und dementsprechend reagieren sie auch auf die Entwicklung in China. Viele bezeichnen China deshalb als Staatskapitalismus. Auch sie sehen nur den Schein, nicht das Wesentliche.
Die chinesische Nation kann nicht mehr militärisch von ihrem Weg abgebracht werden. Auch die untergegangene Sowjetunion hatte militärisch nicht von ihrem Sozialismus abgebracht werden können. Dass es auch anders geht und ohne das bei einigen Genossen so verhasste Fremdkapital, wurde uns brutal in den 1990er Jahren vor Augen geführt. Begonnen mit Chruschtschow 1956 bis hin zum offensichtlichen Verräter am Sozialismus Gorbatschow. Aber anders als die verratene Sowjetunion verfügt China über den großen Vorteil einer wesentlich höher entwickelten Wirtschaft (bis auf die Rüstungsindustrie) und der damit verbundenen finanziellen Ressourcen. Das sollten wir nicht außer Acht lassen.
Entscheidend sind Arbeiterklasse und Partei
Erwähnen möchte ich noch, dass in allen chinesischen Unternehmen – auch den Privatunternehmen chinesischer Prägung wie auch in allen ausländischen Unternehmen – kommunistische Zellen installiert wurden und zugelassen werden mussten. Die kommunistischen Arbeiter haben also eine hervorragende Kontrollmöglichkeit und können Einfluss auf die gesamte Belegschaft nehmen. In keinem anderen Land wurde in den letzten zwei Jahren so viel gestreikt wie in China.
Aber auch die Genossen, die Gefahren wittern und große Bedenken äußern, weisen ja nur auf „das“ hin, was passieren kann, wenn man einen Schritt vom Weg abkommt, denn trotz der gewaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritte ist Entwicklung nicht unumkehrbar, wie man über lange Zeit in der Sowjetunion und den sozialistischen Staaten dachte. Das war trügerische Sicherheit, wie die Geschichte gezeigt hat. Der frühere Sozialismus sowjetischer Prägung ist selbst nach 70-jähriger Existenz in sich zusammengebrochen und musste dem Kapitalismus weichen, weil die Partei es an Wachsamkeit hatte fehlen lassen und es so zu einer alles umwälzenden Konterrevolution kommen konnte.
Dagegen ist kein politisches System gefeit und die politischen Gegner des Sozialismus in den imperialistischen Hochburgen werden nichts unversucht lassen, um in China eine Umkehr vom Weg zum Sozialismus einzuleiten – und sei es mit kriegerischen Mitteln. Die aber werden nicht zum Erfolg führen.
Wichtig ist aber im heutigen China die Stellung der Arbeiter in den Betrieben, der Einfluss der Arbeiterklasse. Das gibt es in dieser Form in keinem einzigen Unternehmen in den kapitalistischen Staaten. Damit werden die jetzigen neuen Machtverhältnisse und auch der Charakter von Gesellschaft und Staat überdeutlich. Mehr als 92 Prozent der Bevölkerung befürworten das Agieren der Kommunistischen Partei. Mehr als 100 Millionen Mitglieder sprechen eine deutliche Sprache, nämlich: Der Charakter von Staat und Gesellschaft ist sozialistisch und wird es auch bleiben.