Es ist nicht zu bestreiten. Für deutsche Ohren klingt die französische Sprache gefällig, weich und unverdächtig. Möglicherweise war dies der Grund für die Katastrophenmedizin, eine bestimmte Verfahrensweise nicht mit den Worten „Selektion“ oder „Aussonderung“ zu bezeichnen, sondern mit dem französischen Begriff „Triage“. Es geht um die Entscheidung, welche Patienten (weiter-) behandelt werden, wenn die materiellen oder personalen Ressourcen nicht für alle Notfälle ausreichen.
Soweit die Definition. Angesichts der durch die Profitorientierung des Gesundheitswesens im letzten Jahrzehnt verursachten Verknappung bei den von den Krankenhäusern vorzuhaltenden Intensivbetten und Beatmungsgeräten und dem prognostizierten Ansteigen der Coronapatienten, beschäftigen sich Mediziner, Philosophen und Juristen verstärkt mit der Triage. Ende März hat die Deutsche interdiszplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) Richtlinien zu den „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall-und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ herausgegeben. In diesem Papier geht es zentral um das ethische Dilemma, das die Verknappung an geeignetem medizinischen Gerät nunmehr den Ärzten aufgebürdet hat: „Wenn die Ressourcen nicht ausreichen, muss unausweichlich entschieden werden, welche intensivpflichtigen Patienten akut-/intensivmedizinisch behandelt und welche nicht (oder nicht mehr) akut-/intensivmedizinisch behandelt werden sollen. Dies bedeutet eine Einschränkung der sonst gebotenen patientenzentrierten Behandlungsentscheidungen, was enorme emotionale und moralische Herausforderungen für das Behandlungsteam darstellt“. Es geht schlichtweg um die Entscheidung, wer die Chance zum Weiterleben bekommt und wem sie verwehrt wird.
Es war nicht wirklich zu erwarten, dass sich das Papier der DIVI mit der Ursache der – wie es heisst – „Priorisierung von Patienten“ auseinandersetzt oder gar die politischen Instanzen anprangert, die den Weg zur Verknappung medizinischer Hilfs – und Rettungsgüter bereitet haben. Auch die Deutsche Bischofskonkurrenz kümmert sich in ihrer Erklärung vom 8. April nicht um Ursachen, sondern hält die Triage im Fall „einer unüberbrückbaren Kluft von medizinischen Ressourcen und Behandlungsbedarf in Folge einer pandemischen Überlastung des Gesundheitssystems“ für „zulässig, gerechtfertigt und sogar geboten“. Immerhin erfahren wir, dass bestimmte Kriterien bei der Entscheidung über Leben und Tod, wie etwa „das Lebensalter oder das Geschlecht, insbesondere soziale Kriterien wie Stellung, Bekanntheitsgrad, ökonomische Aspekte oder auch ‚Systemrelevanz'“ sich verbieten.
Ihren Ursprung hat die Triage in der Militärmedizin: In seinem Werk „Grundzüge der allgemeinen Kriegschirurgie“ (1864) nimmt der Anatom Nikolai Pirogoff zum ersten mal eine Kategorisierung der auf dem Schlachtfeld Verletzten vor. Jene Verwundeten, die am ehesten wieder nach kurzer Zeit genesen und an die Front zurückgeführt werden können, seien für die Transporte ins Feldlazarett gegenüber allen anderen vorzugswürdig. In der Heeressanitätsvorschrift (1938) der deutschen Wehrmacht sind diese prinzipiellen Weichenstellungen weiter ausgearbeitet, ähnliches ist im NATO-Handbuch „Emergency War surgery“ (1958) und in der ZDV 49/50 der Bundeswehr zu lesen. In dem vom Bundesinnenministerium herausgegebenen „Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall“, der vor 10 Jahren herausgegeben wurde und als Standardwerk der Katastrophenmedizin gilt, findet sich bereits die düstere Prognose, dass die fortschreitende Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen soweit führen wird, dass „sich auch die Allgemeinmedizin den Problemen der Verteilung (…) in zunehmendem Maße stellen muss“.
Und spätestens seit dem „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ vom 3. Januar 2013 , der sich mit einer über Deutschland hereinbrechenden „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ beschäftigte, war klar, was heute von den Regierungsverantwortlichen keiner mehr wissen will: „Das Gesundheitssystem wird vor immense Herausforderungen gestellt, die nicht bewältigt werden können“. Kein Gegensteuern, keine präventive Massnahme – stattdessen Abbau intensivmedizinischer Strukturen – so als hätte es diesen Bericht nie gegeben. Und nun wird den Medizinern eine Entscheidung zugewiesen, die – gäbe es ausreichend Betten und Apparaturen – nicht zu treffen wäre. Was gibt man ihnen an die Hand? Vorschläge wie jenen, den eine italienische Ärztegesellschaft für richtig hält: Es käme auf die Summe der „geretteten Lebensjahre“ an (der 80jährige macht das Bett für den 40jährigen frei) oder die Idee des Regensburger Rechtsprofessors Tonio Walter in der „Zeit“ vom 2. April: „Für eine gerechte Entscheidung gibt es nur eine Regel: das Los“.
Nicht das Virus hat die ethischen Standards zu Grunde gerichtet, sondern das System, das des Profits willen Ärzte in diese unsägliche Situation zwingt.