Müllberge in den Straßen, geschlossene Kitas und notversorgte Krankenhäuser sind nicht übermäßig populär. Sie zeigen aber Wirkung. In den vergangenen Jahrzehnten waren solche Phänomene bei Streiks hierzulande eher eine Seltenheit.
Im Vergleich zu Arbeitskämpfen in Frankreich oder Italien, wo auch Betriebsbesetzungen oder Straßenbarrikaden als legitime Mittel im Arbeitskampf genutzt werden, wirken die Tarifauseinandersetzung hierzulande eher moderat. Auch bei den Streiktagen pro Beschäftigten liegt Deutschland immer noch weit hinten im Vergleich zu anderen Industrienationen. Dies hat die Kapitalverbände in den aktuellen Auseinandersetzungen jedoch nicht davon abgehalten, die Gewerkschaften „zur Mäßigung“ aufzurufen und von der Politik weitere Einschränkungen des Streikrechts zu fordern.
Unterstützung erhalten sie hierbei von einer Reihe ihnen nahestehender Medien. So klagte das „Hamburger Abendblatt“ über einen „gefühlten Generalstreik“, nachdem ver.di und EVG Ende März gemeinsam mit dem Beamtenbund zum Auftakt der dritten Verhandlungsrunde zu einem gemeinsamen 24-stündigen Ausstand aufgerufen hatten. Die „Mediengruppe Bayern“ phantasierte gar von „Folterwerkzeugen der Gewerkschaften“ und der „Berliner Tagesspiegel“ schimpfte pflichtbewusst, der Warnstreik sei „nicht verhältnismäßig“. Das „Handelsblatt“ sah die Deutschen gar in „Geiselhaft“. Wem kommt da nicht Brechts Zitat: „Der reißende Strom wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt niemand gewalttätig“ in den Sinn, wenn auf so dreiste Weise Ursache und Wirkung in der medialen Berichterstattung verwechselt werden?
Die Verhältnisse im öffentlichen Dienst bestätigen auf drastische Weise, was man aus anderen Wirtschaftssektoren schon lange kennt. Den sogenannten „Arbeitgebern“ – ob privat oder öffentlich – fehlt jede Bereitschaft, ihren Beschäftigten zumindest in Ansätzen einen Ausgleich für die inflationsbedingten drastischen Reallohnverluste zu gewähren. Dabei steht insbesondere den Beziehern von geringen und mittleren Einkommen – trotz Gaspreisbremse und „Entlastungspaketen“ – das Wasser bis zum Hals.
Gleichzeitig verbuchen DAX-Konzerne zur Freude ihrer Aktionäre Rekordgewinne. Dennoch weigert sich Bundesfinanzminister Christian Lindner kategorisch, über eine Wiedereinführung der Vermögensteuer, eine Änderung bei der Erbschaftsteuer oder andere Abgaben für Reiche und Superreiche auch nur nachzudenken. Kein Wunder, dass die Wut im Land wächst.
Seit dem vergangenen Wochenende liegt nun eine Empfehlung der Schlichtungskommission für die Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst vor. Demnach sollen die rund 2,5 Millionen Beschäftigten in einem ersten Schritt ein in mehreren Raten bis Februar 2024 ausgezahltes steuerfreies Inflationsausgleichsgeld von insgesamt 3.000 Euro erhalten. Die erste Zahlung ist – laut Vorschlag der Schlichtungskommission – im Juni 2023 in Höhe von 1.240 Euro geplant. Von Juli 2023 bis einschließlich Februar 2024 sollen dann monatliche Sonderzahlungen in Höhe von 220 Euro folgen. Ab März 2024 soll es nach der Empfehlung einen Sockelbetrag von 200 Euro geben und eine anschließende Erhöhung um 5,5 Prozent. Der Erhöhungsbetrag soll so mindestens 340 Euro erreichen. Laut Schlichterspruch soll die Laufzeit der Vereinbarung – mit Geltung ab Januar 2023–24 Monate betragen.
Diese Empfehlung ist nun die Grundlage für die Fortsetzung der Tarifverhandlungen, die am 22. April in Potsdam wieder aufgenommen werden. Ob hier ein Ergebnis erzielt wird oder die Streiks wieder aufgenommen werden, ist völlig offen. Ein anderes Ergebnis – jenseits von tabellenwirksamen Lohnerhöhungen oder Einmalzahlungen – liegt jetzt schon vor. Ein längst verschüttet geglaubtes Bewusstsein der eigenen Stärke ist zurückgekehrt. Die Kolleginnen und Kollegen – nicht nur im öffentlichen Dienst – haben eindrucksvoll gezeigt, dass sie sich nicht mehr alles gefallen lassen. Erste Schritte, dass man auch in den deutschen Gewerkschaften wieder ein paar Worte „Französisch“ spricht, sind getan.