Das Gedenken an den 9. November 1938 fand in Politik und staatsnahen Medien in diesem Jahr am Rande statt. Auftrag war, den 9. November 1989, den „Glückstag“ der DDR-Grenzöffnung, zu bejubeln. Wem der Sieg des Antikommunismus ein Fest ist, der interessiert sich nicht für den deutschen Faschismus. Am 7. November aber schlugen in Amsterdam Leute aufeinander ein, darunter einige tausend Anhänger des israelischen Fußballklubs Maccabi Tel Aviv, die zum Europapokalspiel gegen Ajax Amsterdam angereist waren, bekannt als ultrarechte Unterstützer der völkermörderischen Politik israelischer Regierungen gegen Palästinenser. Wer einen verbrecherischen Krieg führt, ist froh über jede propagandistische Entlastung, und so war es nur eine Frage von Stunden, bis Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf X schrieb: „Ein Pogrom in den Straßen von Amsterdam (…) Muslime mit palästinensischen Flaggen jagen Juden.“ Es war Chefsache, den Begriff „Pogrom“ in die Welt hinaus zu blasen und an den 9. November 1938 zu erinnern. Die Leitmedien insbesondere der Bundesrepublik sprangen an, vornweg die Springer-Blätter.
Als sich kurz nach Ausstrahlung von Videos, auf denen angeblich die Jagd auf Maccabi-Anhänger zu sehen war, allerdings herausstellte, dass es sich um Verfolgung anderer durch israelische Hooligans handelte, räumten am Wochenende Teile der deutschen Bürgerpresse ein, Falschnachrichten verbreitet zu haben. Springers Zeitungen verstummten einfach oder machten wie Henryk Broder auf „welt.de“ am Montag aus dem Eigentor ein „Pogrom ‚light‘“, um bei der Schlussfolgerung zu bleiben: „Jetzt spricht alles dafür, dass die Barbarei die Oberhand gewinnen wird.“ Mit Blick auf Israel hat er recht.
Bereits am Sonntagabend hatte sich aber zum Beispiel ARD-Korrespondent Christian Feld auf X gemeldet: „Am Freitag habe ich Filmmaterial von iAnnetnl verwendet im falschen Kontext. Am Samstag habe ich mich direkt bei ihr für meinen Fehler entschuldigt.“ Und FAZ-Korrespondent Thomas Gutschker legte in einem längeren Text am Montag dar, was Gerrit Hoekman in der „jungen Welt“ bereits am Samstag berichtet hatte: „Kein Pogrom“. Titel des FAZ- Artikels: „Die ‚Judenjagd‘ und ihre Vorgeschichte“.
Auf letztere hatte, so Gutschker, der Chef der Amsterdamer Polizei, Peter Holla, schon am Freitagmittag hingewiesen. Sie begann am Mittwochabend nach Anreise der Maccabi-Anhänger, die sofort zu gewaltsamen Übergriffen schritten, die gefilmt wurden: Herunterreißen und Verbrennen palästinensischer Flaggen, begleitet von Ausrufen wie „Fuck you, Palestine!“, Attacke auf offenbar mehrere arabischstämmige Taxifahrer, was eine Gegenattacke anderer Fahrer auslöste. Erst um 3.30 Uhr sei am Donnerstag Ruhe eingetreten. Vor dem Spiel versammelten sich am Nachmittag erneut Maccabi-Anhänger mit Schmährufen auf Palästina und „zeigten Transparente mit israelischen Kriegshelden“. Gutschker weiter: „Auf dem Weg zur U-Bahn riefen sie ‚Tod den Arabern‘ und einen Schlachtruf, mit dem sie nicht ihr Team, sondern ihre Armee anfeuerten. In der U-Bahn sangen sie ein Lied mit der Zeile: ‚Es gibt keine Schulen mehr in Gaza, alle Kinder sind tot. Olé, olé, olé.‘“ Wen das an Gesänge deutscher sogenannter Fußballfans erinnert – „Wir bauen eine U-Bahn bis nach Auschwitz“ –, liegt nicht falsch. Nach dem Spiel warteten in Amsterdam Schlägertrupps auf die Israelis.
Fazit: Dem Gedenken an den deutsch-faschistischen Antisemitismus wurde maximal geschadet – durch „Glückstags“besoffenheit und völlig unangemessene Vergleiche von Amsterdam mit Deutschland 1938. Genutzt hat das Ganze vor allem Europas Faschisten. Geert Wilders, heimlicher Regierungschef der Niederlande, setzte parallel zu Netanjahu das Wort „Judenjagd“ in die Welt. Beide haben folgerichtig zusammengefunden.