Rekordteilnehmerzahl beim 1. Mai in Frankreich. Kampf gegen „Rentenreform“ im Vordergrund

Massiv, geeint, entschlossen

Ob im strömenden Regen in Paris oder unter funkelnder Sonne am wolkenlosen Himmel in Marseille: Insgesamt 2,3 Millionen Menschen haben an über 310 Demonstrationen zum 1. Mai in ganz Frankreich teilgenommen. Ein neuer Rekord, stellte der Gewerkschaftsverband CGT zufrieden fest – die Teilnehmerzahl ist glatt zehn Mal so hoch wie die des Vorjahrs. Zum ersten Mal in der Geschichte Frankreichs mobilisierten sämtliche Gewerkschaftsverbände des Landes gemeinsam zum 1. Mai.

Die „Rentenreform“, die Staatspräsident Emmanuel Macron am Parlament vorbei per Dekret erlassen hatte, erzürnt noch immer drei Viertel der Franzosen. Die Heraufsetzung des frühestmöglichen Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre und die diktatorische Haltung Macrons waren die wesentlichen Gründe, die so viele Menschen auf die Straßen trieben. Verstärkend wirkten auch die immer weiter steigenden Preise für Lebenshaltung. Der zum 1. Mai um lediglich 2,19 Prozent erhöhte Mindestlohn liegt jetzt bei 11,52 Euro pro Stunde. Bei Vollzeitbeschäftigung sind das 1.747,20 Euro pro Monat – das reicht selbst außerhalb der großen Städte hinten und vorne nicht, um über die Runden zu kommen.

Die größte Demonstration zum 1. Mai gab es mit über 550.000 Teilnehmern in Paris – auch das nahe dran an einem neuen Rekord. Teilnehmer berichten, die Demo sei bunter gemischt gewesen als an den bisherigen Aktionstagen gegen die „Rentenreform“, gewerkschaftliche Blöcke weniger einheitlich aufgetreten. Drei Jugendliche erklommen die 15 Meter hohe Statue der Republik auf dem Place de la République, um ihr ein T-Shirt mit der Aufschrift „Macron démission“ (Macron, tritt zurück) überzustreifen. Die Polizei filmte den Demozug flächendeckend mittels Drohnen – ein Novum in Frankreich. Mehrmals griff sie die Spitze des Demozugs an. 31 Demonstranten wurden verletzt, 30 weitere im übrigen Frankreich.

In Marseille demonstrierten laut CGT 130.000 Menschen, in Toulouse und Bordeaux jeweils 100.000. Auch in kleineren Städten gingen beachtlich viele Menschen auf die Straße: 48.000 in Grenoble, 33.000 in Brest, 20.000 in Caen. In Le Havre unterstrichen 20.000 Menschen, dass soziale Kämpfe und Antifaschismus Hand in Hand gehen. Dort traf sich die faschistische „Rassemblement nationale“ (RN), die Nachfolgepartei der „Front nationale“ (FN) – just an der Stelle, an der drei FN-Mitglieder am 1. Mai 1995 den Marokkaner Brahim Bouraam ermordet hatten.

Für den 1. Mai in diesem Jahr hatten sich viele Franzosen wochenlang warm gelaufen. Mit kurzfristig angesetzten Kochtopf-Demos machten viele ihrem Ärger bei Auftritten von Ministern, Macron und vor Rathäusern und lokalen Verwaltungszentren Luft. Macron kann nicht mehr öffentlich auftreten, ohne ausgepfiffen zu werden. Traditionell überreicht der französische Präsident den Fußballpokal nach dem Finalspiel. Am 29. April traute er sich das nicht: Die Zuschauer im Pariser Stade de France hatten sich über ein polizeiliches Demonstrationsverbot hinweggesetzt und Macron mit zehntausenden roten Karten und Trillerpfeifen begrüßt. Den Pokal überreichte er dem FC Toulouse dann in der Umkleidekabine statt auf dem Rasen.

Wie geht der Kampf gegen die bereits in Kraft getretene „Rentenreform“ weiter? Die Gewerkschaften scheinen fest entschlossen, ihn weiter gemeinsam zu führen. Der nächste Aktionstag ist für den 6. Juni angesetzt, es wird der vierzehnte sein. Am 3. Mai (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) entscheidet der Verfassungsrat über den zweiten Versuch der linken Opposition, ein Referendum über die „Rentenreform“ zu starten. Den ersten Versuch hatte der Verfassungsrat am 14. April abgelehnt (siehe UZ vom 21. April). Und am 8. Juni stimmt die Nationalversammlung über den Entwurf eines Aufhebungsgesetzes ab, eingebracht von Abgeordneten der Gruppe Libertés, indépendants, outre-mer et territoires (LIOT).

Keine Ruhe an der Heimatfront also für Macron. Ärger bekommt er jetzt auch auf internationaler Bühne: Die Rating-Agentur Finch hat kürzlich die Kreditwürdigkeit Frankreichs wegen der Streiks gegen die „Rentenreform“ herabgestuft. Und der Menschenrechtsausschuss der UN hat Frankreich am Montag wegen „übermäßiger Gewaltanwendung der Ordnungskräfte“ bei Demonstrationen gerügt.

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"Massiv, geeint, entschlossen", UZ vom 5. Mai 2023



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