Am 26. März haben in Moskau, Petersburg und vielen anderen Städten Russlands Massenproteste gegen die Korruption im Land stattgefunden. Daran beteiligt waren jeweils Hunderte, Tausende und in Moskau bis zu zehntausend Demonstranten, darunter sehr viele junge Menschen. Es waren dies die größten Aktionen seit der Protestbewegung 2011/2012, die am 6. Mai 2012 mit der Niederschlagung von gewaltsamen Provokationen auf dem Bolotnaja-Ploschtschatj im Zentrum Moskaus ihr Ende fand.
Zu den aktuellen Protesten hatte der prowestliche Kremlkritiker Aleksej Nawalny über das Internet aufgerufen. Dienten 2011/2012 angebliche oder tatsächliche Wahlfälschungen bei den Duma- bzw. Präsidentenwahlen zugunsten der Kremlpartei „Einiges Russland“ (ER) bzw. Putins als Vorwand und Auslöser der Proteste, so diesmal ein von Nawalny und seiner Stiftung „Fonds für den Kampf gegen die Korruption“ ins Internet gestelltes Video über Ministerpräsident Medwedjew als faktischen Nutzer mehrerer Luxusimmobilien, Weingüter und Jachten, die formal nicht ihm gehören, sondern einem Netzwerk pseudowohltätiger Stiftungen, die diese Objekte verwalten und sich aus Spenden und „Krediten“ Medwedjew nahestehender russischer Oligarchen finanzieren. Als Geschäftsführer dieser Stiftungen habe Medwedjew ihm ergebene Spezis eingesetzt, heißt es. Den Beschuldigungen sollen öffentlich zugängliche Dokumente zugrunde liegen. Russischen Medien zufolge haben sich das Video allein über „YouTube“ 11,8 Millionen Menschen angesehen.
Weder Medwedjew noch Putin haben auf die im Video dargestellten Fakten reagiert. Das hat das Fass der Empörung zum Überlaufen gebracht. Der Ministerpräsident und die unter seiner Führung stehende Kremlpartei ER tun so, als sei das Video Nawalnys keinerlei Beachtung würdig. Und auch Präsident Putin stellt sich bisher taub, blind und stumm.
Hier soll angemerkt werden, dass die Fraktion der KPRF bereits am 24. März von der Duma gefordert hat, einen „Protokollarischen Auftrag“ zur Untersuchung der im Film Nawalnys erhobenen Anschuldigungen gegen Ministerpräsident Dmitri Medwedjew zu erteilen.
Einem solchen Auftrag müssen mindestens 226 Abgeordnete zustimmen. Die Situation ist allerdings so, dass die von Medwedjew geführte Partei „Einiges Russland“ 343 der 450 Abgeordnetenstimmen unter Kontrolle hat. Für den wahrscheinlichen Fall, dass der Vorschlag der KPRF deshalb keine Chance hat, beabsichtigen die Kommunisten eine parlamentarische Untersuchung zu initiieren, für die 90 Unterschriften ausreichen. Die KPRF, die 42 Abgeordnete hat, wirbt darum um die 39 Stimmen der LDPR und die 23 von „Gerechtes Russland“.
Es stellt sich die Frage, warum haben Medwedjew und Putin nicht auf die im Video dargestellten „Fakten“ reagiert? Wie ist dieses Verhalten zu erklären? Eine Erklärung könnte sein, dass die Vorwürfe unbestreitbar sind und man in der russischen Führung die beste Taktik darin sieht, keinen weiteren Staub aufzuwirbeln, der sich möglicherweise dann auch auf den scheinbar sauberen Westen weiterer russischer Politgrößen absetzen könnte. Wäre Medwedjews Weste sauber, so spräche doch alles für eine Verleumdungsklage gegen Nawalny, bei der für den Kremlkritiker sicher eine höhere Strafe herauskommen könnte als die bescheidenen 15 Tage Haft, zu denen er im Zusammenhang mit den jüngsten Protesten wegen Verstoßes gegen das Versammlungsrecht verurteilt wurde.
Vorstellbar ist auch, dass die Führung in Moskau durch die überwältigende Zustimmung der russischen Bevölkerung zur Außenpolitik Putins den Blick für die wachsende Unzufriedenheit in großen Teilen der Bevölkerung mit der unsozialen Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Korruption sowie den Verflechtungen zwischen Politbürokratie und Oligarchie verloren hat und in bornierter Arroganz der Macht die Gefahren verkennt, die daraus nicht nur für ihre Macht, sondern auch für die Stabilität Russlands entstehen können.
Das wäre umso problematischer, als im Zusammenhang mit den jüngsten Protestaktionen erneut deutlich wird, mit welcher Intensität im Westen die Entwicklungen in Russland verfolgt werden, um jede sich bietende Gelegenheit, aufbrechende Widersprüche zwischen der russischen Bevölkerung und der Moskauer Führung blitzschnell nutzen zu können und Öl ins Feuer zu gießen. So erklärte der Leiter des Pressedienstes des State Department in Washington, Mark Toner, bereits unmittelbar nach den Protesten: „Die USA verurteilen entschieden die Festnahme unschuldiger Demonstranten in ganz Russland. Die Verhaftung friedlicher Protestierer, Verteidiger der Menschenrechte und Journalisten entspricht nicht den grundlegenden demokratischen Werten.“ Wie nicht anders zu erwarten war, kamen postwendend ähnliche Erklärungen auch aus Brüssel und Berlin.
In einem Beitrag der russischen Netzzeitung „Swobodnaja Pressa“ (SP) vom 27. März heißt es zu der Erklärung aus Washington sarkastisch: „Die Sorge des State Department ist geradezu rührend. Man erinnere sich, was nach der Inauguration Donald Trumps passierte, als es in den USA zu einer Welle von Massenprotesten kam. In Washington ging die Aktion in Unruhen und Zusammenstößen im Stadtzentrum über. Wie CNN berichtete, erlitten mindestens sechs Polizisten Verletzungen, 217 Teilnehmer der Unruhen wurden verhaftet. Massenproteste gab es in New York, Seattle, Dallas, Chicago, Portland – von Beunruhigung über das Schicksal ‚unschuldiger Demonstranten‘ war aus dem State Department jedoch nichts zu hören.“
Und der Direktor des Instituts für politische Forschungen, Sergej Markow, betont im Gespräch mit der SP, dass es sich bei der Reaktion des State Department auf die Proteste am 26. März, zweifellos um ein Signal der Unterstützung für die „Westler“ in Russland handele. Das Ziel des hybriden Krieges des Westens gegen die Russische Föderation bestehe darin, Putin zu stürzen, und jetzt tauche die Möglichkeit auf, diesen Krieg fortzusetzen. Deshalb bestehe eines der indirekten Resultate der jüngsten Aktionen darin, dass es zweifellos zur Verlängerung der Sanktionen kommen werde. Früher hätten die Gegner der Sanktionen im Westen gesagt, dass es sinnlos sei, weiter Druck auf Russland auszuüben, weil das keine politischen Ergebnisse bringe. Jetzt aber gebe es ein starkes Argument für die Anhänger der Sanktionen – nämlich Proteste mit tausenden Teilnehmern in ganz Russland.
Was die weitere Entwicklung der Protestbewegung in Russland betrifft, so ist der Politologe der Ansicht, dass deren Organisatoren versuchen werden, diese nach der Logik der Proteste von 2011/2012, bzw. in einer gewissen Analogie zum ukrainischen Maidan voranzutreiben. Russland könnten unruhige Zeiten bevorstehen. Die Führung in Moskau muss reagieren.