Bei der Premiere des Films „Der junge Marx“ in der Karlsruher „Schauburg“ wurde Stefan Konarske von einem Zuschauer gefragt, ob er sich mit den Inhalten des Films und den Aussagen seiner Protagonisten identifiziert. Der aus der Tatort-Serie bekannte Schauspieler spielt Friedrich Engels. „Nein“ lautete seine Antwort. „Ich spiele eine Rolle in der Geschichte über eine Freundschaft von zwei Männern. Nur darauf kam es mir an.“
Also kein politischer Film? Natürlich ist der Film politisch. Schon in der ersten Szene wird gezeigt wie Menschen, die im Wald Holz sammeln, von der preußischen Polizei hoch vom Ross herunter zusammengeprügelt werden. Die zweite Szene zeigt das Elend der Arbeiterinnen und Kinder, die in der Spinnerei von Engels Vater arbeiten müssen und wie Leibeigene behandelt werden.
„Der junge Karl Marx“ zeigt keine Männerfreundschaft, der es darum geht, zusammen zu saufen und gemeinsam Abenteuer zu erleben. Es ist die Freundschaft von zwei Männern, die, unterstützt durch zwei starke, rebellische Frauen, die Welt ändern wollen. Hier ist die Handlung unmittelbar beim Kern der Thesen von Marx und Engeln – nämlich „die Welt nicht bloß zu interpretieren, sondern sie zu ändern“. Am Ende des Films steht das „Kommunistische Manifest“.
Der Film verzichtet weitgehend auf Pathos und Effekthaschereien, auch dort, wo es um die grauenvollen Verletzungen der Fabrikarbeiterinnen oder die Gewalt gegen die Arbeiter und Armen geht. Eine junge Arbeiterin, die später Engels‘ Frau wird, schreit die Missetaten gegenüber dem Fabrikbesitzer „nur“ voll Wut heraus. Hier wird in der genannten zweite Szene erzählt, wie eines der Fabrikmädchen seine Finger in einer Maschine „verloren“ hat. Es gibt auch keine theatralisch inszenierten Gegensätze zwischen Arm und Reich. Die Armut des Proletariats zu zeigen genügt, um die Wirklichkeit in den industriellen Zentren des vorletzten Jahrhunderts darzustellen. Ebenfalls ruhig erzählt wird die Entwicklung der Kernelemente der Aussagen von Marx und Engels im Widerspruch zu den frühen Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon und Wilhelm Weitling, dem Gründer des „Bund der Gerechten“. Durch die Reden von Marx und Engels wird sich dieser Bund 1847 in einer hitzigen Debatte in „Bund der Kommunisten“ umbenennen. „Es reicht nicht aus nur Gerechtigkeit herzustellen.“ Man muss die Wurzeln der Ungerechtigkeit beseitigen, so die beiden Revolutionäre.
Stefan Kühner
UZ: Herr Peck, ich habe gelesen, dass Ihre Biografie ein paar Ähnlichkeiten mit der von Karl Marx aufweist. Hat Sie das zu diesem Thema geführt?
Raoul Peck: Ich hatte das Glück, sehr früh auf Marx zu stoßen. Ich habe Marx zunächst als Philosoph, als Journalist und als Ökonom kennen gelernt. Denn ich war damals so um die 22 bei meinem Studium hier in Berlin und damit Teil einer Generation, für die Marx ein großes Thema war. Und für uns, die wir aus Ländern kamen, in denen es Diktaturen gab, war Marx etwas sehr Konkretes. Als ich nach Berlin zum Studium kam, stand eigentlich fest, dass ich hinterher wieder nach Haiti zurückgehen würde, um dort gegen die Diktatur zu kämpfen. Da war ja immer noch Diktatur bis 1986. Ich wusste also, dass es darum ging, die Instrumente für diesen Kampf kennen zu lernen, und das war auch Marx. Die Philosophie und der Ansatz von Marx gaben die Grundlage, die Zusammenhänge einzuordnen und zu verstehen. Allerdings weniger das, was später eine sehr eingeengte, engstirnige didaktische Diskussion wurde, sondern die Kraft seiner Analysen, mit denen wir auch heute die Lage besser erfassen und beurteilen können, das war mein Erbe aus diesen Jahren.
UZ: Mir fällt da Frantz Fanon ein und sein Buch „Die Verdammten der Erde“, das damals viel diskutiert wurde.
Raoul Peck: Ja, und aus ihm habe ich etwas gelernt, vor allem über die Rolle der Gewalt in den Befreiungskämpfen gegen den Kolonialismus. Ich war ja ein junger Mann damals, und es gab ja noch so vieles andere, es gab Aimé Césaire, auch schwarze Autoren in den USA wie James Baldwin waren sehr wichtig für mich. Und natürlich Marx. Ich habe vier Semester Seminare zum „Kapital“ studiert und da ging es weniger um Ideologie, sondern um seine Analyse. Ich hatte Freunde, die waren schon weiter, und ich spürte, dass ich mein Wissen vertiefen musste. Marx spielte darin die zentrale Rolle, denn er war der Vater von allem, was kam.
UZ: Dies ist jetzt „Der junge Marx“. Wird es dann eine Fortsetzung „der alte Marx“ geben?
Raoul Peck: Ich weiß nicht, ob das nötig ist. Denn die ganze Entwicklung seines Denkens steckt ja schon in diesen Jahren, in denen er seinen Doktor in Philosophie machte und bei der „Rheinischen Zeitung“ arbeitete und die dann zum „Kommunistischen Manifest“ führten. Man braucht nur das „Manifest“ zu nehmen und hat schon ein Instrument, um auch die Krisen zu erklären, die wir heute haben. Das „Kapital“ ist dann nur noch der Versuch, das alles in eine Art System zu bringen. Und für mich war das immer ein sehr wichtiges Instrument, das ich auch heute noch verwende. Selbst bei solchen Erscheinungen wie Trump fühle ich mich nicht verloren, sondern ich kann erkennen, wo Trump herkommt, also bin ich nicht überrascht darüber, dass eine populistische Figur wie er Präsident werden konnte. Marx gibt mir den Abstand, das zu analysieren. Er schafft uns den Abstand, den historischen und ökonomischen Kontext zu erkennen und die Dimensionen, die das hat.
UZ: Ihr Film zielt erkennbar auf ein junges Publikum, das wenig oder nichts über Marx weiß.
Raoul Peck: Ja, aber nicht nur die, auch auf Leute, die schon mal davon gehört haben. Was ich gestern in der Vorführung erlebt habe, war, dass die Magie funktionierte, auch bei vielen, die die Geschichte wohl kannten, aber angetan waren von der Subtilität, mit der sie erzählt wird. Das war mir sehr wichtig, denn oft wird übersehen, dass der Film sehr genau ist in seiner Wortwahl, in seinen Dialogen. Darum war der Film auch kompliziert zu machen. Ich wollte ja, dass ein normales Publikum ihn versteht, aber mich auch nicht der Kritik der Historiker und Experten aussetzen.
UZ: Es gibt ja schon bei der ersten Szene mit den Holzsammlern ein Zitat aus dem Off. Ist das authentisch?
Raoul Peck: Ja, das stammt aus seinem ersten Artikel für die „Rheinische Zeitung“. Das war einer der Artikel, die die preußische Regierung zensieren ließ und derentwegen sie dann die Zeitung verboten haben.
UZ: Und dass Marx Engels bei ihrer ersten Begegnung abschätzig als „Amateur mit Goldknöpfen“ bezeichnet, ist das auch authentisch?
Raoul Peck: Ich glaube, auch das ist authentisch. Denn die beiden stehen ja in diesem Moment für einen großen Gegensatz, Marx, der immer in Geldnot ist, und der Fabrikantensohn Engels.
UZ: Und der ja auch wieder im Gegensatz zur gefeuerten Arbeiterin Mary Burns.
Raoul Peck: Ja, genau, und all diese Geschichten sind authentisch, die sind durch die Dokumente aus dem Briefwechsel bestätigt. Natürlich steht im Zentrum Marx, dann Engels, aber auch diese beiden Frauen waren ja stark und intelligent, und sie waren Teil der Bewegung. Bedenken Sie, die Geschichte wird meistens von Männern geschrieben und die Frauen sieht man nicht. Aber Jenny war ja nicht so eine traditionelle Frauenfigur, sie war keine „Hausfrau“ im klassischen Sinn. Sie verstand, um was es ging bei Marx, und sie war seine Stütze.
UZ: Die anderen Figuren jener Zeit, also Proudhon, Weitling, Bakunin usw., kommen relativ knapp vor.
Raoul Peck: Das war schwierig, denn ich musste mich auf Marx konzentrieren. Er ist die Hauptfigur und er nutzt die Arbeit der anderen und auch die Irrtümer all der anderen. Er zeigt ihre Widersprüche auf, zum Beispiel bei Proudhon. Die andere Position ist die etwas verrücktere, die eines Typen wie Weitling, der eine Art Populist war. Marx versuchte beide zu verstehen und zu erklären. Er tut diese Positionen nicht gleich ab, zum Beispiel als er zu der Kundgebung von Proudhon geht. Er fragt ihn: „Um welche Art von Eigentum geht es?“ Und Proudhon muss sich erklären. Marx wird auch immer klarer und je tiefer er dringt, desto mehr wird er ungeduldig, denn für ihn ist das Zeitverlust.
UZ: Mich hat überrascht, dass Sie nach dem dramaturgischen Höhepunkt, der ja die Gründung des „Bundes der Kommunisten“ ist, auf eine ruhige Szene am Strand von Oostende schneiden mit dem Gespräch der zwei Frauen.
Raoul Peck: In meinem Film geht es um reale Geschichte, nicht um ein amerikanisches „biopic“. Darin wären diese Umwandlung des Bundes der Gerechten in den Bund der Kommunisten sicher der große Schluss gewesen. Aber mir ging es darum, die wahre Geschichte ohne zu viele Kompromisse zu erzählen, aber auch ohne das Publikum zu verlieren. Dem muss ich ja Kino liefern, aber das, was ich ihm wirklich geben will, sind Ideen. Bei mir bedeutet der Höhepunkt eben nicht „Es ist vorbei“, sondern Höhepunkt heißt: „Jetzt kommt der nächste Kampf!“ Marx und Engels haben gewonnen, aber jetzt kommt die nächste Schlacht, die um das „Manifest“ und um die genauen, richtigen Worte. Einige Kritiker haben geschrieben, der Film sei ihnen zu klassisch. Ja, er ist klassisch, und darauf bin ich stolz, denn so wird er vom Publikum angenommen, und das, obwohl ich versucht habe, sehr genau in allem zu sein bei dieser komplizierten Materie. Deshalb hat es uns ja mehr als vier Jahre gekostet, das Drehbuch zu schreiben.
UZ: Rechnen Sie mit einem Erfolg an den Kinokassen?
Raoul Peck: Das müssen wir abwarten. Ich hoffe es, denn Marx ist ja Teil unserer Geschichte, und wenn das nicht verstanden würde, wäre es ja traurig.