Marx-Schwemme

Georg Fülberth: Grundausstattung statt Gimmicks

Georg Fülberth ist emeritierter Professor für Politik und regelmäßiger Kolumnist der UZ

Georg Fülberth ist emeritierter Professor für Politik und regelmäßiger Kolumnist der UZ

Als 2013 die UNESCO das „Manifest der Kommunistischen Partei“ und den ersten Band des „Kapital“ in ihr Weltdokumentenerbe aufnahm, fühlten sich die Anhängerinnen und Anhänger von Karl Marx und Friedrich Engels bestätigt: also hätten ihre Vordenker doch Recht gehabt. Diese Schlussfolgerung wäre wohl unterblieben, hätte man Kenntnis davon genommen, welchen anderen Erzeugnissen des menschlichen Geistes gleichzeitig dieselbe Ehre zuteil wurde: der Himmelsscheibe von Nebra und dem Lorscher Arzneibuch. Gewiss ist die UNESCO nicht der Ansicht, diese stellten die letztgültigen Erkenntnisse der Astronomie oder Pharmazie dar.

Die späte Verbeugung vor Karl Marx ist mit der Ansicht der bürgerlichen Welt, er sei ein toter Hund, durchaus vereinbar, und zwar so sehr, dass man seine Einbalsamierung für angebracht hält.

Dies gilt auch für einen großen Teil der Bekundungen anlässlich seines 200. Geburtstags am 5. Mai 2018. Marx ist Objekt der Kulturindustrie geworden, bis hin zum Stadtmarketing von Trier, das sein Gesicht für Fußgängerampeln benutzt. Auch die akademische Wissenschaft gedeiht von ihm: innerhalb nicht einmal eines Jahrzehnts erschienen drei umfangreiche Lebensbeschreibungen von Karl Marx. Und in diesem Frühjahr ist – viertens – der erste von drei Bänden einer Biographie von Michael Heinrich erschienen.

Teilweise jenseits solcher akademischer Anstrengungen existiert ein wenngleich kleines politisches Parallelwelt-Universum, in dem Marxistinnen und Marxisten ihre Deutungskämpfe austragen: teils gegeneinander, teils gegen die bürgerliche Welt.

Fast könnte man annehmen, dass wir inzwischen genug über Karl Marx wissen.

Es stimmt nicht ganz. Noch ist sein Nachlass nicht vollständig veröffentlicht. Bis dies geschehen ist – durch die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) – werden etwa eineinhalb Jahrzehnte vergehen. Und es hat bis 2017 gedauert, dass endlich Thomas Kuczynski eine Edition des ersten Bandes des „Kapital“ vorlegte, in der alle Hinweise von Marx berücksichtigt sind, die über den heute meistgebräuchlichen Band 23 der blauen Marx-Engels-Werkausgabe (MEW) hinausgehen. Das sind unentbehrliche philologische Leistungen.

Hiervon zu unterscheiden ist eine inzwischen mittlerweile eingetretene rein ideologische und selbstreferentielle (= sich selbst genügende) Überproduktion, für die Marx und Engels wahrscheinlich ein sarkastisches Urteil parat gehabt hätten: sie bringe uns keinen Flohsprung dem näher, was sie letztlich allein interessiert hat: dem Ende des Kapitalismus. Die gegenwärtige Überfülle gleicht einem ständigen Wasserfluss in einen Behälter, aus dem der Stöpsel nicht entfernt werden kann, sodass kein Abzug entsteht. Er läuft aber auch nicht über, denn die Wände der Wanne werden immer höher. Der Kapitalismus kann das, was an Marx-Zitaten gegen ihn vorgebracht wird, offenbar noch lange aushalten.

So gesehen ist es wohl eher gut und nicht schlecht, wenn der Geburtstagsrummel irgendwann vorbei ist und auf andere Weise die Tatsache genutzt wird, dass es noch nie in der Geschichte in Deutschland eine Generation gegeben hat, die so viele Marx-Kenntnisse besitzt wie die heute lebende: dank der DDR im Osten und der Achtundsechziger im Westen.

Was kann man damit anfangen?

Zum Beispiel könnte man einen Perspektivwechsel vornehmen: nicht sofort fragen, welche Aussagen von Marx und Engels in der Gegenwart auf welche Weise angewandt werden sollen, sondern umgekehrt: Probleme der Gegenwart zunächst als solche wahrnehmen, eigene Antworten probieren und dabei nachsehen, ob sich vielleicht bei auch bei den beiden Altvorderen schon etwas dazu findet. Und gerade wenn da und dort Fehlanzeige sein sollte, ist eine Grundausstattung unentbehrlich: ein solider „Kapital“-Kurs. Es muss ja nicht immer gleich eine Komplett-Lektüre von über 2 000 Seiten sein.

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"Marx-Schwemme", UZ vom 4. Mai 2018



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