Dreizehnter Verhandlungstag im Prozess um den Polizeimord an Mouhamed Dramé in Dortmund: Erstmals äußert sich Todesschütze Fabian S.

„Man ist froh, wenn man überhaupt trifft“

Nach vierwöchiger Unterbrechung ist der Strafprozess gegen fünf der Polizisten, die am tödlichen Einsatz gegen den 16-jährigen Geflüchteten Mouhamed Lamine Dramé im August 2022 in Dortmund beteiligt waren, am Mittwoch weiter gegangen. Für diesen 13. Prozesstag hatte der Verteidiger des mutmaßlichen Todesschützen Fabian S. angekündigt, dass sein Mandant sich erstmals äußern werde. Entsprechend groß war das Medieninteresse, das zuletzt abgeflaut war.

Bevor er Fabian S. das Wort erteilt, äußert sich der Vorsitzende Richter Thomas Kelm zu zwei Punkten, die an den beiden vorangegangen Prozesstagen zur Sprache gekommen waren. Am 22. April hatte Kelm behauptet, Besuchern des Prozesses sei es nicht gestattet, Notizen zu machen. Da in der Öffentlichkeit ausgiebig über den Prozess berichtet werde, sehe er keinen Grund, Mitschriften von Zuschauern zu unterbinden, erklärt er heute.

Dann äußert er sich zu der Erklärung, mit der Rechtsanwältin Lisa Grüter am 17. April das von ihm verhängte Verbot beanstandet hatte, die Zeugenaussagen zu verwerten, die die Angeklagten in den Tagen nach der Tat gemacht hatten. Grüter vertritt zusammen mit dem Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes die Familie Mouhamed Dramés als Nebenkläger. Die ermittelnden Beamte der Polizei Recklinghausen hatten die heute Angeklagten zunächst als Zeugen statt als Beschuldigte vernommen. Formal sei Grüters Widerspruch gegen das Beweiserhebungsverbot in Ordnung, sagt Kelm. Für ihn stehe weniger die Verwertbarkeit der Aussagen als das Aufklärungsinteresse im Vordergrund. Derzeit sehe er nicht, inwieweit diese ersten Aussagen wesentlich zur Wahrheitsfindung beitragen würden. Unter Umständen werde er Vorhaltungen aus diesen Zeugenvernehmungen in Einzelfällen zulassen, rudert Kelm etwas zurück.

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Von links nach rechts: Rechtsanwältin Lisa Grüter, Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes, Sidy Dramé, Dolmetscher, Lassana Dramé (Foto: Valentin Zill)

Dann erteilt er Fabian S. das Wort.

In kaltem Beamtendeutsch schildert der 30-jährige Polizist den Einsatz an jenem 8. August 2022, nachdem Mouhamed Dramé im Krankenhaus starb, durchsiebt von Schüssen, die S. abgegeben hatte. Seine Aussage deckt sich im Wesentlichen mit dem, was seine Kollegen auf der Anklagebank und im Zeugenstand ausgesagt hatten. Die MP5, erklärt Fabian S. später auf Nachfrage von Oberstaatsanwalt Carsten Dombert, habe er sich selbst genommen, sie sei ihm nicht explizit zugeteilt worden. Seine Kollegin Pia Katharina B. habe zu einem Distanzelektroimpulsgerät gegriffen. „Ohne Frau B. zu nahe treten zu wollen“, sagt S., „die Waffe wird schwer, wenn man sie lange hält.“

Kelm stellt S. immer wieder Fragen. Er will etwa wissen, ob irgendwer hinterfragt habe, wieso Taser und eine Maschinenpistole eingesetzt werden, wenn es um einen suizidalen Jugendlichen gehe. „Nicht grundsätzlich“, sagt S.

Auf Anordnung des Einsatzleiters Thorsten H. habe Jeannine Denise B. Pfefferspray eingesetzt. Er habe den Strahl gesehen, sagt S. Er habe Mouhamed Dramé getroffen, sei allerdings „eher wie Nebel“ angekommen. Jeannine Denise B. stand gegenüber dem Jugendlichen, der im geschlossenen Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt an einer Mauer lehnte. Sie griff den Jugendlichen durch einen Zaun hindurch an. Der Zaun sei etwa drei bis vier Meter von der Mauer entfernt, sagt S. „Auf die Entfernung müsste das eigentlich funktionieren.“

Ihm sei klar gewesen, dass der Einsatz des Reizgases dazu diene, dass Dramé das Messer fallen ließe. Der 16-jährige hielt sich ein Küchenmesser an den nackten Oberkörper. Er habe etwa sechs Meter entfernt von Dramé gestanden, sagt S.

Nach dem Einsatz des Pfeffersprays sei Mouhamed Dramé aufgestanden, habe sich kurz orientiert und sei dann „schnell in unsere Richtung“ gelaufen, sagt Fabian S. Er habe den Knall eines Tasers gehört, aber keine Drähte gesehen. Das müsse der seiner Kollegin Pia Katharina B. gewesen sein. Kurz zuvor soll Markus B. den Jugendlichen getasert haben, geht aus Zeugenaussagen hervor. Das habe er nicht wahrgenommen, behauptet Fabian S. Dramé habe sein Messer weiter in der Hand gehalten.

Daraufhin habe er sich veranlasst gesehen, „als Sicherungsschütze tätig zu werden“, sagt S. In dem Moment sei sein Leben und das seiner Kollegen bedroht gewesen, behauptet er.

Er habe auf die Körpermitte gezielt. Das mache man so, wenn jemand in Bewegung sei. „Man ist froh, wenn man überhaupt trifft“, sagt Fabian S.

Man hört Menschen im Gerichtssaal nach Luft schnappen.

Fünf bis sechs Mal habe er geschossen, sagt S. Man sehe nicht, ob man getroffen habe, nur, ob eine Reaktion erfolge. „Ich wollte, dass er stehen bleibt.“

Etwa eine halbe Stunde nach seiner Rückkehr zur Polizeiwache Nord habe er erfahren, dass Mouhamed Dramé gestorben ist. Für ihn sei das ein Schock gewesen, sagt Fabian S. „Als ob die Zeit stehen bleibt, das Herz stehen bleibt.“ Er habe jeden Tag Mouhamed Dramés Gesicht vor Augen und „damit“ noch nicht abgeschlossen. Dann sagt er noch einen Satz, der wie aus einem kitschigen „Tatort“ klingt: „Ich habe, als ich Polizeibeamter wurde, gehofft, dass mir das nie passiert.“

Aus seiner Sicht sei der Einsatz rechtmäßig verlaufen, behauptet S. Er habe sich „danach jeden Tag gefragt, ob ich persönlich was hätte anders machen können“. Bis heute will er auf keine Alternative gekommen sein. In unregelmäßigen Abständen nehme er psychologische Betreuung in Anspruch, erklärt S. auf Nachfrage. Seit dem 1. September 2022 ist er vom Dienst suspendiert.

„Waren Sie danach nochmal schießen?“, fragt Lisa Grüter. Fabian S. bejaht, ein bis zwei Wochen später sei das gewesen. „Mit welcher Waffe?“, hakt Anwältin Grüter nach. „Mit einer MP5.“

Man hört Menschen im Gerichtssaal nach Luft schnappen.

Die Strafverteidiger haben keine Fragen an Fabian S. Als die Richter, Staatsanwaltschaft und Anwälte der Nebenklage fertig sind, stellt Thomas Kelm fest, dann könne man ja Schluss machen für heute.

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Die Richter und Schöffen (Foto: Valentin Zill)

Fabian S. meldet sich noch einmal. Drei bis vier Sätze wolle er an die Nebenklage richten. Das Ganze betreffe ihn sehr und mache ihn traurig, sagt er in Richtung von Sidy und Lassana Dramé. Die beiden Brüder Mouhameds nehmen an dem Prozess teil. Für Mouhameds Familie müsse es sehr schwer sein, ihren Bruder so zu verlieren. Er erwarte nicht, dass man ihm das glaube, sagt S., aber er wolle Familie Dramé sein aufrichtiges Mitgefühl aussprechen.

Zum ersten Mal in diesem Prozess äußert einer der Angeklagten Bedauern über den Tod Mouhameds. Fabian S. wirkt den Tränen nahe. Sein Gesicht ist rot, seine Stimme stockt.

Zum ersten Mal in diesem Prozess wendet sich ein Verfahrensbeteiligter direkt an die Brüder Mouhamed Dramés.

Lassana Dramé hat den Kopf gesenkt. Er ist nicht ansprechbar.
Sidy Dramé weint in seine Jacke. Sein Körper bebt.

Auf der Anklagebank wirkt die Stimmung schon wieder gelöst.

Der Prozess wird am 5. Juni fortgeführt.

Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.

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