Zu den Aufrüstungsplänen des deutschen Imperialismus – Teil 1

„Man bräuchte 300 Milliarden Euro“

Lühr Henken

Dieser Artikel beruht auf einem Referat, das Lühr Henken, Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, auf dem Festival der Jugend der SDAJ Ende Mai gehalten hat. Im ersten Teil beschäftigt er sich mit den Aufrüstungsplänen deutscher Bundesregierungen seit 2014 und stellt dabei die konkreten Projekte für das deutsche Heer dar. Im zweiten Teil in der kommenden UZ-Ausgabe schildert er die Aufrüstung bei Marine und Luftwaffe und ordnet die Pläne in die geostrategische Orientierung des deutschen Imperialismus ein.

Die Aufrüstung der NATO begann mit dem Beschluss ihres Gipfels in Wales 2014. Binnen zehn Jahren, also bis 2024, sollten sich alle Mitgliedstaaten mit ihren Militärausgaben einem Anteil von 2 Prozent ihrer jeweiligen Bruttoinlandsprodukte (BIP) annähern.

Von 2014 bis 2021 hat die NATO ihre Ausgaben von 943 Milliarden US-Dollar auf 1.175 Milliarden Dollar erhöht. Russland hat seine Militärausgaben seit 2014 gesenkt, von knapp 85 Milliarden Dollar auf 66 Milliarden Dollar, so dass sich das Überlegenheitsverhältnis von damals 11:1 zugunsten der NATO auf 18:1 erhöht hat. Die Frage, wer wen bedroht, lässt sich anhand dessen leicht beantworten.

Deutschland nahm den NATO-Beschluss zum Anlass, ebenfalls aufzurüsten. Verzeichnete die NATO nach ihren Kriterien für Deutschland 2014 Ausgaben von knapp 35 Milliarden Euro (1,19 Prozent des BIP), kommt sie für 2021 schon auf über 52 Milliarden Euro (1,46 Prozent des BIP) – ein Plus von rund 50 Prozent in sieben Jahren.

Stichwort Militärplanungen

Den Beginn der deutschen Militärplanungen markiert das „Bühler-Papier“ aus dem Jahr 2017. Erhard Bühler war Chef des Planungsstabs im Bundesverteidigungsministerium. Lediglich Ausschnitte aus seinem Papier wurden in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) veröffentlicht, allerdings basieren alle folgenden Aufrüstungsschritte darauf. Was war das Besondere an diesem Papier?

Es sollte nicht mehr die Rüstung für Auslandseinsätze wie im Kosovo oder in Afghanistan im Vordergrund stehen, sondern sie sollte wieder auf Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtet sein – was nichts anderes bedeutet, als für Großkriege aufzurüsten.

Für das Heer, die größte Teilstreitkraft, bedeutete das, nicht mehr nur über sechs halbwegs ausgerüstete Brigaden zu verfügen. Das heißt: Diese sollten nicht nur zu 70 Prozent ausgerüstet sein, sondern so aufgerüstet werden, dass ab 2031 ein Ausrüstungsstand von 100 Prozent erreicht sein sollte. Und dann sollte das Heer nicht nur sechs und eine halbe Brigade zählen, sondern zehn Brigaden. Eine Brigade umfasst etwa 5.000 Soldaten. Bei 100 Prozent Ausrüstungsstand spricht man von einer sogenannten „Kaltstartfähigkeit“. Da sich in der Regel 30 Prozent des Kriegsmaterials in der Instandsetzung befinden oder gerade modernisiert werden, muss man 30 Prozent mehr an Material zur Verfügung haben. Das bedeutet: Die „Kaltstartfähigkeit“ erfordert 130 Prozent an Material. Somit bewirkt die Aufrüstung auf Grundlage des Bühler-Papiers mit mehr Brigaden und einer geplanten „Kaltstartfähigkeit“ fast eine Verdreifachung der Kampfkraft des deutschen Heeres.

Bühler nannte 2017 ein paar konkrete Zahlen. Die Zahl der Radpanzer und die Artillerie sollten jeweils verfünffacht werden, die Anschaffung neuer Schützen- und Kampfpanzer und von 60 schweren Transporthubschraubern war vorgesehen, die Zahl der Kriegsschiffe sollte um ein Drittel wachsen und Seekrieg aus der Luft wieder möglich werden.

Von der Leyen: Taktgeberin der Aufrüstung

Ursula von der Leyen war als Verteidigungsministerin damals eine treibende Kraft bei der Umsetzung dieser Aufrüstungsvorhaben. Anfang 2018 wurde öffentlich bekannt, dass sie an Parlament und Öffentlichkeit vorbei Deutschland gegenüber der NATO dazu verpflichtet hatte, bis 2027 eine und bis 2031 dann drei komplett einsatzbereite Divisionen (das sind die zehn Brigaden aus dem Bühler-Papier) aufgestellt zu haben. Allein ihre Finanzierung fehlte. Schon 2016 hatte von der Leyen insgesamt 130 Milliarden Euro für neue Waffen und Ausrüstungen bis 2031 gefordert. Sie war Taktgeberin der deutschen Aufrüstung. 2018 gab sie gegenüber der NATO an, bis 2024 die Marke von 1,5 Prozent Militäranteil am BIP erreichen zu wollen. Das war noch nicht das 2-Prozent-Ziel, das die NATO für diesen Zeitpunkt anstrebte, aber mehr als die 1,19 Prozent beim Start 2014. Es war ihrer Nachfolgerin im Amt, Annegret Kramp-Karrenbauer, 2019 vorbehalten, zu verkünden, das 2-Prozent-Ziel bis 2031 erreichen zu wollen.

Scholz will Bundeswehrausgaben vervielfachen

Bundeskanzler Olaf Scholz sagte in seiner „Zeitenwende“-Rede am 27. Februar vorigen Jahres wörtlich: „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“ Das heißt, die mindestens 2 Prozent sollten schon 2022 erreicht werden und nicht erst 2031. Woher sollen die Gelder kommen? Sie speisen sich aus dem regulären Bundeshaushalt und den 100 Milliarden Euro des sogenannten Sondervermögens (besser Sonderschulden), die maximal bis Ende 2030 zur Verfügung stehen. So der Bundestagsbeschluss vom 3. Juni 2022 – er legt fest, dass die 2 Prozent jeweils als Mittelwert aus fünf Jahren errechnet werden sollen.

Inzwischen liegen solide Schätzungen über die zu erwartende Entwicklung der deutschen Wirtschaftsleistung – also des BIP – und der Inflation vor, so dass es möglich ist, recht konkrete Voraussagen über die künftige Höhe der deutschen Militärausgaben machen zu können. Ausgehend von 2022 schätzt die NATO den deutschen Anteil am BIP auf 1,49 Prozent, gleich 57,7 Milliarden Euro.

Für 2023 hat der Bundestag 50,1 Milliarden Euro für den Einzelplan 14 beschlossen, jedoch erstmals die Entnahme von 8,5 Milliarden Euro aus den Sonderschulden angekündigt, so dass nominal die deutschen Ausgaben zunächst auf 58,6 Milliarden Euro hochschnellen werden (ein Plus von 17 Prozent). Aber schon Ende März bewilligte der Bundestag zusätzlich 1,3 Milliarden Euro für Waffen an die Ukraine und für Waffenersatz für die Bundeswehr, so dass in diesem Jahr 60 Milliarden erreicht werden dürften.

Eine offizielle Schätzung der NATO für die deutschen Ausgaben in diesem Jahr liegt noch nicht vor. Wenn sie wieder um 7,3 Milliarden über dem nominellen Ansatz liegen werden wie im Vorjahr, werden wir nach NATO-Kriterien auf 67 Milliarden Euro in diesem Jahr kommen.

Das würde einen Anteil von 1,63 Prozent am BIP bedeuten – also auch in diesem Jahr nicht 2 Prozent, wie sie Scholz schon für 2022 erreichen wollte. Nun hat Boris Pistorius, der neue Verteidigungsminister, kürzlich die Erreichung des 2-Prozent-Ziels für 2025 angekündigt. Nach Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute wird das BIP 2025 bei knapp 4.400 Milliarden Euro liegen, dem würden Militärausgaben in Höhe von 88 Milliarden Euro entsprechen. Und da die Anteile am BIP in den beiden Jahren vor 2025 unter 2 Prozent liegen, müssen sie in den beiden Jahren danach darüber liegen, um so das Gesetz des Durchschnitts von 2 Prozent binnen fünf Jahren einzuhalten. Das hat gewaltige Auswirkungen: Die deutschen Militärausgaben werden 2026 bei knapp unter 100 Milliarden und 2027 bei 110 Milliarden Euro liegen. Um sich noch einmal die Bedeutung dieser Gigantomanie vor Augen zu führen: Innerhalb von fünf Jahren verdoppelt die Bundesregierung die Rüstungsausgaben.

Lindner: Sozialausgaben für Aufrüstung kürzen

Um das bezahlen zu können, wird zunächst auf die Sonderschulden zurückgegriffen werden müssen. Spätestens ab 2031 werden diese aufgebraucht sein, sodass ab dann sämtliche Ausgaben direkt aus dem Bundeshaushalt bezahlt werden. Das geht auf Kosten der Sozialleistungen. Darauf hat zuletzt Finanzminister Christian Lindner (FDP) unmissverständlich hingewiesen. Der „Spiegel“ gibt ihn mit den Worten wieder, „vorrangig müsse in den Ressorts mit den höchsten Sozialausgaben gespart werden. (…) Verschont werden soll das Verteidigungsministerium.“

Damit die Bevölkerung das möglichst klaglos hinnimmt, wird mit der Warnung vor einem angeblichen russischen Imperialismus die Gefahr aus dem Osten beschworen. Zudem gibt sich Pistorius alarmiert: „Wir haben keine Streitkräfte, die verteidigungsfähig sind, also verteidigungsfähig gegenüber einem offensiven, brutal geführten Angriffskrieg.“ Und seine SPD-Parteifreundin Eva Högl, Wehrbeauftragte des Bundestages, forderte wiederholt: „Man bräuchte 300 Milliarden Euro, um in der Bundeswehr signifikant etwas zu verändern.“

Was haben die mit dem vielen Geld eigentlich vor?

Finanziert werden soll damit die umfassende Aufrüstung von Heer, Marine und Luftwaffe. So soll für alle drei Teilstreitkräfte neue Munition gekauft werden – Kosten: 20 Milliarden Euro.

Dem Gesetz über das Sondervermögen ist ein „Wirtschaftsplan des Sondervermögens 2022“angehängt, aus dem hervorgeht, welche Milliardenbeträge auf welche Teilstreitkräfte verteilt werden sollen. Es fehlen jedoch Angaben über die Anzahl, die Kosten im Einzelnen und den Zeitrahmen für die Anschaffung der Waffensysteme. Diese Informationen muss man sich anderswo besorgen.

Die NATO hat im Juni 2022 ein neues dreistufiges Streitkräftemodell (New Force Model – NFM) beschlossen. Dabei geht es darum, ihre Schnelle Eingreiftruppe, die NATO Response Force (NRF), die derzeit noch 40.000 Soldaten sowie 30.000 in geringer Bereitschaft umfasst, auf etwa 800.000 Soldaten aufzustocken. Das bedeutet eine Vergrößerung der schnell mobilisierbaren NATO-Truppen auf mehr als das 10-Fache und stellt einen außerordentlich gewaltigen Schritt der Konfrontation gegenüber Russland dar. Dafür sollen die von Ursula von der Leyen 2018 angemeldeten deutschen Divisionen bei der NATO zeitlich vorgezogen werden. Die erste Division soll nicht erst 2027, sondern schon 2025 aufgestellt sein, die anderen bis spätestens 2029. Sie alle sollen „kaltstartfähig“ sein. Schauen wir uns die Aufrüstungsmaßnahmen der drei Teilstreitkräfte genauer an.

Das Heer

Für das Heer stehen aus dem „Sondervermögen“ für acht Vorhaben 16,6 Milliarden Euro zur Verfügung. Hinzu kommt ein großer Anteil aus der „Dimension Führungsfähigkeit/Digitalisierung“ (20,7 Milliarden Euro).

Zum Plan gehört, dass die schon vorhandenen 350 Schützenpanzer Puma auf eine Goldrandlösung aufgerüstet werden sollen. Der Puma wird so zu einem gepanzerten Computer auf Ketten, dessen Stückpreis von 24 Millionen Euro dann viermal so hoch sein wird wie zu Beginn seiner Beschaffung – der teuerste Schützenpanzer unter der Sonne.

Als Ersatz für 18 an die Ukraine gelieferte Kampfpanzer Leopard 2 hat der Bundestag im Mai 18 fabrikneue Leopard 2 A8 bestellt – Stückpreis: gute 29 Millionen Euro. Gleichzeitig wurde mit Krauss-Maffei Wegmann (KMW) ein Vertrag über die Option der Anschaffung von über 105 Kampfpanzern desselben Typs geschlossen. Das würde dann etwa 2,4 Milliarden Euro kosten.

„Gamechanger“ für die Panzerschlacht

Der Knaller des Heeres ist das Main Ground Combat System (MGCS). Dieses Vorhaben beruht auf einer Regierungsvereinbarung von Angela Merkel und Emmanuel Macron im Jahr 2017.

Die neue Kampfpanzer-Generation MGCS soll die Leopard 2 der Bundeswehr sowie die ­Leclerc-Panzer der französischen Armee ersetzen. Ziel ist es, „ein Hightech-System zu entwickeln, bei dem Robotik und Waffen wie Hochgeschwindigkeitsraketen eine entscheidende Rolle spielen“. MGCS soll so zu einem militärischen Gamechanger werden. KMW hat mit der französischen Firma NEXTER eigens für MGCS das Joint Venture KNDS gegründet. KNDS entwickelt zusammen mit Rheinmetall das MGCS. Der damalige KMW-Chef Frank Haun – heute KNDS-Chef – rechnete 2018 für die nächsten 25 bis 30 Jahre in Europa mit einem Bedarf von 5.000 Kampfpanzern im Wert von 75 Milliarden Euro.

Deutschland hat beim MGCS-Projekt die Führung inne. Allerdings „ist in vier der acht zentralen ‚Technologiefelder‘ immer noch umstritten, welches Land jeweils das Sagen haben soll“. Damit sind aktuell sämtliche Fortschritte in der Entwicklungsarbeit blockiert. Da Scholz diesem Vorhaben in seiner „Zeitenwende“-Rede „höchste Priorität“ beigemessen hat, dürfte es da wohl bald vorangehen. Allerdings ist der Auslieferungsbeginn bereits um fünf Jahre auf 2040 verschoben worden.

Boom wie nie zuvor

Die deutschen Rüstungsfirmen Rheinmetall, KMW und Hensoldt profitierten massiv von den Aufrüstungsplänen. Bei Rheinmetall schoss der Aktienkurs am Tag nach der Scholz-Rede um 50 Prozent nach oben, einen Monat später hatte er sich verdoppelt und liegt heute beim 2,5-Fachen. Wichtiges Merkmal für die deutsche Aufrüstung ist die Entwicklung der Auftragsbestände des Rheinmetall-Konzerns. 2016 verzeichnete er Aufträge im Wert von drei Milliarden Euro, bis 2021 hatte sich der Auftragswert verfünffacht. Für dieses Jahr steuert Rheinmetall beim Auftragsbestand auf 30 Milliarden Euro zu.

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"„Man bräuchte 300 Milliarden Euro“", UZ vom 16. Juni 2023



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