Mamma mia!

Georg Fülberth zu den Quengeleien bei der Union 

Georg Fülberth ist emeritierter Professor für Politik und regelmäßiger Kolumnist der UZ

Georg Fülberth ist emeritierter Professor für Politik und regelmäßiger Kolumnist der UZ

Selbst wohlwollende Betrach­ter­(innen) der SPD – und wer wäre das derzeit nicht? – müssen eingestehen, dass diese ein infantiles Verhältnis zur Kanzlerin hat. Wenn ihre führenden Funktionäre sich wieder einmal geschnitten haben, verhalten sie sich wie Kinder, die zur Mama laufen, sich beschweren und getröstet werden wollen. Dazu gehört, dass die Kleinen über konkurrierende Geschwister klagen und verlangen, die Mutter solle gegen sie einschreiten. Bei jeder beliebigen Misshelligkeit – schlechtes Benehmen der CSU, Maaßen – erklären sie, die Kanzlerin müsse diesem Treiben ein Ende bereiten. Da diese sich nicht dazu benutzen lässt, greinen sie anschließend: Merkel habe versagt.

Diese Quengelei erfolgt, während die SPD in der Großen Koalition ist. Merkels angebliche Unbeweglichkeit verhindere größere Fortschritte.

Die so Gescholtene hat einst schon ihren damaligen Vizekanzler Sigmar Gabriel sanft darauf hinzuweisen versucht, durch solche Beschwerden mache er sich und seine Partei klein. Diese habe doch gerade in der Großen Koalition 2013–2017 viel erreicht, darunter den gesetzlichen Mindestlohn und die Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren. Dafür, dies zugelassen zu haben, ist sie von Kapitalvertreter(inne)n kritisiert worden, und es wurde ihr eine „Sozialdemokratisierung“ der Union vorgeworfen. Der Koalitionsvertrag von 2018 stellt eine Fortsetzung dieses Kurses in Aussicht: Armutsrentnerinnen und -rentner mit 35 Beitragsjahren sollen einen Zuschuss erhalten, zumindest der Beitrag zur Krankenversicherung hälftig von Unternehmern und Beschäftigten gezahlt, die Rückkehr von Teil- in Vollzeitbeschäftigung erleichtert und anlasslose Befristungen von Arbeitsverhältnissen etwas eingedämmt werden.

Merkels Kritik am Selbstverständnis der SPD ist berechtigt. Vielleicht sollte ihr die Friedrich-Ebert-Stiftung einmal einen Lehrauftrag über die Stellung der Sozialdemokratie im Parteiensystem der Bundesrepublik erteilen. Dabei könnte sie vortragen, dass die SPD eben der Betriebsrat in der Politik der BRD ist. Das stellt eine verdienstvolle Aufgabe dar.

Laut Betriebsverfassungsgesetz vertritt der Betriebsrat die Interessen der Belegschaften und arbeitet zugleich mit der Kapitalseite vertrauensvoll zusammen. Wenn er seinen Job gut macht, kann für die abhängig Beschäftigten etwas dabei herauskommen.

In der gesamten Geschichte der BRD hat die SPD diese Funktion wahrgenommen. Bis 1969 stellte die Union ununterbrochen den Kanzler, aber die Sozialdemokrat(inn)en regierten dort mit, wo sozialpolitisch immerhin auch etwas zu erreichen war: in Kommunen und Ländern. Auf der Bundesebene erzielten sie aus der Opposition heraus Wirkung: Als Adenauer 1957 eine Rentenreform zugestand, dann auch deshalb, weil er ihnen im Wahlkampf den Wind aus den Segeln nehmen wollte. In der ersten Großen Koalition 1966–1969 holte die SPD (zusammen mit dem Gewerkschaftsflügel der CDU) Einiges heraus. Auch in den Großen Koalitionen unter Merkel ist das gelungen.

Die SPD ist die strukturelle Juniorpartnerin. Darüber, dass sie in Ausnahmesituationen 1969–1982 und 1998–2005 auch einmal den Kanzler stellen durfte, hat sie übersehen, dass es sich nur um 20 Jahre in 68 Jahren BRD-Geschichte handelte und dass dies kein Zufall ist: das Kapital ist kontinuierlich an der Macht, seine Zentralparteien sind CDU und CSU.

Dass sie dieses Verhältnis gern ändern würde, ist der Sozialdemokratie nicht zu verdenken. Mit Beschwerden über Merkel wird sie es nicht schaffen.

Der Mutterkomplex hat mittlerweile auch die Union erfasst. Ihr gefällt ihre eigene Kanzlerin nicht mehr: die sei an allem Schuld.

Was geschähe wohl, wenn Merkel plötzlich verschwände? Es wäre furchtbar für CDU/CSU und SPD. Schlagartig würde klar, dass beide nicht wissen, was sie im Falle eines Falles anders machen würden als sie.

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"Mamma mia!", UZ vom 5. Oktober 2018



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