Deutschland erklärt sich zum Klimaretter, setzt aber lieber auf Wirtschaftskrieg

Märchenstunde in Sharm El Sheikh

Gekürzt und redaktionell bearbeitet

Die Bundesregierung lobt sich anlässlich der UN-Klimakonferenz in Sharm El Sheikh als globale Vorreiterin im Kampf gegen den Klimawandel. Man „wisse“, was „zu tun“ sei, erklärt Außenministerin Annalena Baerbock: „Schnellstmöglich raus aus fossiler Energie und rein in Erneuerbare.“ Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck behauptet, „mehr Klimaschutz“ sei „unsere deutsche wie auch unsere europäische Antwort“. Bundeskanzler Olaf Scholz ließ sich am Montag mit der Mitteilung zitieren, Berlin setze sich auf der UN-Klimakonferenz für ein „robustes Arbeitsprogramm zur Emissionsminderung“ ein. Gemeint sind Schritte, um andere Länder zur Einhaltung der Klimaschutzziele zu bewegen. Sich selbst räumt Berlin faktisch eine Ausnahme ein.

Die Bundesrepublik hat bereits in den vergangenen Jahren ihre klimapolitischen Ziele verfehlt. Dies geht aus dem jüngsten Zweijahresgutachten des Expertenrates für Klimafragen hervor, das Ende der vergangenen Woche veröffentlicht wurde. Demnach sind die Treibhausgasemissionen in Deutschland zwar von 2000 bis 2021 um gut 26,6 Prozent gesunken. Doch reicht dies dem Expertenrat zufolge „bei weitem nicht aus, um die Klimaschutzziele für das Jahr 2030 zu erreichen“ – und zwar „weder in der Summe noch in den einzelnen Sektoren“. Besonders in den Bereichen „Verkehr“ und „Industrie“ war die Reduzierung unzureichend.

Die Tatsache, dass Berlin dem Wirtschaftskrieg gegen Russland umfassend Priorität gegenüber dem Kampf gegen den Klimawandel einräumt, führt dazu, dass gewisse mittlerweile erreichte Fortschritte rückgängig gemacht werden; so steigt der Anteil von Kohlekraftwerken an der deutschen Stromerzeugung wieder an. Der drohende Erdgasmangel, der dies notwendig macht, ist eine Folge der Tatsache, dass Deutschland und die EU den raschestmöglichen Ausstieg aus dem Bezug russischen Erdgases angekündigt haben und Russland darauf mit Kürzungen reagiert. Japan, das russisches Erdgas komplett von seinen Sanktionen ausgenommen und die Kaufverträge verlängert hat, wird von Moskau umstandslos weiterhin beliefert.

Weitreichende klimapolitische Folgen hat der Umstieg von russischem Pipeline- auf US-amerikanisches Flüssiggas. Letzteres wird vor allem durch Fracking gefördert, eine Methode, die erhebliche Umweltschäden mit sich bringt und darüber hinaus die Bevölkerung rings um die Förderstellen gefährdet; diese habe „ein erhöhtes Risiko, an Krebs und einer Reihe anderer medizinischer Störungen zu erkranken, wobei Schwangere und Kinder ein noch größeres Risiko verzeichnen“, stellt die belgische Nichtregierungsorganisation Food & Water Action Europe fest. Der Organisation zufolge hat der Import von 50 Milliarden Kubikmetern Flüssiggas, den die EU den US-Gasexporteuren zugesagt hat, Emissionen von rund 400 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten zur Folge. Das entspreche jährlichen Emissionen von 100 Kohlekraftwerken. Bis einschließlich 2029 belaufe sich die Menge des importierten US-Flüssiggases auf fast 2,9 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente – so viel wie die Jahresemissionen von über 621 Millionen Autos. Die Klimabilanz von Flüssiggas sei eindeutig schlechter als diejenige von russischem Pipelinegas.

Hinzu kommt, wie Food & Water Action Europe konstatiert, dass der Import von vor allem US-amerikanischem Flüssiggas den Bau neuer Export- und Importterminals mit sich bringt. So sei in den Vereinigten Staaten, die zur Zeit über sieben große Exportterminals verfügten, der Bau von 24 weiteren Terminals in Planung oder bereits genehmigt; deren Emissionen würden auf 90 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr geschätzt. In Europa seien – zusätzlich zu den 41 bestehenden Importterminals – sieben weitere im Bau und 26 geplant; hinzu kämen mindestens 20 schwimmende Terminals (Floating Storage Regasification Units, FSRUs). FSRUs hätten eine Betriebszeit von mehr als 20, feste Importterminals von mehr als 40 Jahren; ein Terminal, das heute in Betrieb gehe, sei also bis mindestens zum Jahr 2062 funktionsfähig, hält Food & Water Action Europe fest. Mit dem Bau der Anlagen sowie der zugehörigen Pipelines, die schließlich benötigt würden, um das Gas von den Importterminals weiterzuleiten, errichte man für teures Geld zusätzliche Infrastruktur für klimaschädliche Energie.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Märchenstunde in Sharm El Sheikh", UZ vom 11. November 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit