Eine Leserin des „Przeglad“ schrieb Ende Oktober 2017:
„Ich habe heute in das Geschichtslehrbuch für die 6. Klasse geschaut. Ein Grauen! Das Lehrbuch behandelt die Zeiten von den Teilungen Polens bis zur Gegenwart. Unter den Ursachen der Teilungen gibt es nicht einmal eine Erwähnung der Targowitzer. Ich ging dann zum II. Weltkrieg über, in dem zwar – nach dem Lehrbuch – Deutschland eine gewisse Rolle spielte, aber vor allem hat uns die Sowjetunion überfallen, die seit 1945 Polen okkupierte, trotz der heldenhaften Anstrengungen der ‚unbeugsamen Soldaten’ und der ‚legalen Londoner Regierung’. Die Menschen in der VRP ächzten in der Sklaverei und ernährten sich allein von den Karten für Fleisch. Aus dieser Okkupation befreite uns der Priester Popieluszko und der größte Pole in der Geschichte war Johannes Paul II. Die heldenhafte amerikanische Armee kämpfte tapfer in Vietnam und brachte den Vietnamesen die Befreiung vom Kommunismus. Das ganze Lehrbuch ist voller solcher Blüten. Ich habe es zugeknallt, ich war einfach bestürzt. Das ist Gehirnwäsche für künftiges Kanonenfutter.“
Bereits während der ersten von der PiS, der Partei „Prawo i Sprawiedliwost“ („Recht und Gerechtigkeit“), maßgeblich geführten polnischen Regierung (2005 bis 2007) wurde deutlich, dass diese Partei die Geschichtspolitik als wesentlichen Bestandteil im Instrumentarium der politischen Machtkämpfe sieht. Im Jahr 2015 wurde die PiS sowohl bei den Präsidenten- als auch den Parlamentswahlen stärkste Kraft. Sie ging daraufhin in schnellem Tempo daran, ihre errungene Machtposition entschlossen für die Sicherung und Erweiterung ihrer Einflussmöglichkeiten auszunutzen. So auch in der Justiz, in den Medien, im Bildungssystem, im Museumswesen und so weiter. Geschichts- oder, wie auch häufig formuliert wird, Erinnerungspolitik nahm und nimmt dabei einen herausragenden Platz ein.
Viele der gegenwärtig die Geschichtspolitik der PiS bestimmenden Sichten auf die Vergangenheit und Gegenwart Polens sind ineinander verzahnt und greifen auf teilweise lange zurückreichende Betrachtungsmuster, Mythen, Legenden und Stereotype zurück. Andere integrieren sehr bewusst religiös geprägte Narrative (Erzählungen, Formen der Darstellung) oder im aktuellen Politikbetrieb eine dominierende Rolle spielende Positionen, wie etwa einen abgrundtiefen Antikommunismus und Antirussismus.
Einen zentralen Platz nimmt in der PiS-gesteuerten Geschichtspolitik das Bestreben ein, die Rolle und Bedeutung Polens als eine von allem Anfang an großartige, erfolgreiche, Stolz begründende, zu jeder Zeit für Europa unverzichtbare, weil dessen Sicherheit und Identität als im Glauben feste katholische Nation und damit Bastion gegen den barbarischen Osten, festzuschreiben. Dem im 19. Jahrhundert von bekannten Schriftstellern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, genannt seien insbesondere Mickiewicz und Krasinski, begründeten Mythos von Polen als dem „Christus Europas“, das heißt das bis in die Gegenwart hinein fortwirkende Bild Polens als einerseits in vergangenen Zeiten europäische Großmacht und zugleich der Märtyrer Europas und Messias, wird eine große Bedeutung zugemessen. In zahlreichen Publikationen in der PiS nahestehenden Medien, nicht zuletzt im gegenwärtigen Filmschaffen, spielt dies als wichtiges Element zur Stärkung des Nationalbewusstseins der heranwachsenden Generation eine erhebliche Rolle.
Der Smolensk-Mythos
Dabei wird in vielfältiger Weise die Smolensker Flugzeugkatastrophe vom 10. April 2010 in verschiedenen Zusammenhängen und Stoßrichtungen als neuer Mythos systematisch ausgebaut. Es geht dabei nicht nur um vielfältige Versuche, die Katastrophe umzudeuten in einen gemeinsam von den damaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk und Wladimir Putin zu verantwortenden gezielten Anschlag auf das Leben des Staatspräsidenten Polens und seiner hochrangigen Begleitung. Entgegen den gründlich erarbeiteten Berichten polnischer und russischer Untersuchungskommissionen sind von Gremien, die in direktem Auftrag von PiS-Funktionären (eine bestimmende Rolle spielte dabei der ehemalige Verteidigungsminister Antoni Macierewicz) aus internationalen „Experten“ (deren Qualifikation für diese Tätigkeit in einem Fall zum Beispiel darauf gestützt wurde, dass er sich in seiner Jugend intensiv mit Flugzeugmodellbau beschäftigt hatte) zusammengestellt wurden, die in verschiedenen Varianten „Nachweise“ dafür „erarbeitet“ haben, dass der Anschlag durch eine oder gar mehrere Explosionen im Flugzeug in der Schlussphase des Landeanflugs erfolgte. Diese Darstellung des tragischen Geschehens erwies sich als sehr geeignet, die seit langer Zeit unterschwellig in der polnischen Gesellschaft vorhandenen antirussischen bzw. antisowjetischen Aversionen weiter zu befördern. Höhepunkt der Kampagne wurde schließlich die Produktion eines Filmes mit dem schlichten Titel „Smolensk“, der zu einem Aufsehen erregenden cineastischen Höhepunkt hochstilisiert wurde. Der polnische Journalist Cezary Michalski schrieb dazu: „Damit der Flugzeugabsturz von Smolensk die Dynamik der politischen und gesellschaftlichen Prozesse in Polen ändern konnte, durfte er nicht einfach nur der tragischste Verkehrsunfall in der polnischen Geschichte bleiben, sondern musste zu einem Anschlag und in die polnische Tradition des Märtyrertums eingereiht werden – neben den Verbrechen von Katyn und den vielen blutig niedergeschlagenen polnischen Aufständen. Und die Opfer dieses Unfalls mussten Märtyrerstatus erlangen. Der konservativste Teil der polnischen Kirche wiederum kam zu dem Schluss, der Smolensk-Mythos sei das einzig effektive Mittel im Kampf gegen die ‚aus Brüssel heraufziehende’ Säkularisierung. Am deutlichsten sprach das wenige Tage nach dem Absturz der junge und charismatische katholische Publizist Tomasz Terlikowski aus, der von vielen konservativen Bischöfen und Priestern als repräsentative Stimme eines neuen, traditionalistischeren und antieuropäischen polnischen Katholizismus angesehen wird. Terlikowski schrieb: ‚Wir wollten vor der uns von Gott auferlegten Mission in die ‚Normalität‘ des Westens entfliehen. Wenn das so war, dann ist diese Tragödie eine deutliche Erinnerung daran, dass es uns nicht gegeben sein wird, ein ‚normales‘ Volk zu sein, das in aller Seelenruhe leben kann, sondern dass der Herrgott von Zeit zu Zeit einen Blutzoll von uns fordert.“ Fasziniert von Jaroslaw Marek Rymkiewicz und dessen in den „Kinderszenen“ entwickelter Theorie vom Massaker als dem wichtigsten Anker, der die Polen an die eigene nationale Identität bindet, schrieb der junge Dichter Wojciech Wencel kurz darauf in einem Gedicht: „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir sterben.“ Einzugliedern in diesen Zusammenhang ist die Tatsache, dass seitens der PiS-Führung und ihrer Anhänger mittlerweile von den prominenten Opfern der Flugzeugkatastrophe vornehmlich als von den „gefallenen Helden“ gesprochen wird.
Das „nichtpolnische Polen“
Der in diesem Zusammenhang intensiv neu angestachelte Antirussismus fand seinen Niederschlag in einer kaum noch überschaubaren Flut von Versuchen in den PiS gesteuerten Medien die Sicht auf die polnisch-russischen Beziehungen total umzuwerten. Dominierend wird das Bild gezeichnet, dass mit dem 1939 unterzeichneten deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag ein „Bündnis“ zwischen Stalin und Hitler zur gemeinsamen Vernichtung der polnischen Staatlichkeit geschlossen wurde. Die Geschichtspolitik der PiS verzichtet vollständig auf eine Bewertung der polnischen Außenpolitik in der zweiten Hälfte der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Im Rückblick auf die Vorkriegszeit und die nachfolgenden Jahre wird die Sowjetunion ausschließlich als „Aggressor“ und „Okkupant“ (von 1944 bis 1989) gekennzeichnet, von Befreiung Polens könne daher keine Rede sein. Dieser Sicht entsprechend wird inzwischen in zunehmend grotesker Weise der Existenz der „Volksrepublik Polen“ als Bestandteil polnischer Staatlichkeit jegliche Berechtigung abgesprochen. Vor kurzer Zeit häuften sich, z. B im Zusammenhang mit der urplötzlich erhobenen Forderung nach Reparationszahlungen Deutschlands und dem Rückblick auf den März 1968, Erklärungen von Verfassungsorganen Polens, dass es, wie Ministerpräsident Morawiecki in Berlin und München erklärte, 1968 gar keinen polnischen Staat gegeben habe. Und in kritischer Analyse der Diskussion um einen Senatsbeschluss über die antisemitische Welle in Polen 1968, in dem als Verantwortliche nicht die polnische Nation, sondern „Kommunisten nicht näher zu bestimmender Nationalität“ genannt werden, fasste der polnische Historiker Prof. Jacek Leociak zusammen: „Dies ist ein weiteres Beispiel der vom PiS-Lager betriebenen falschen Geschichtspolitik. Die Geschichte Polens wird selektiv behandelt, sie erinnert an Schweizer Käse. Der Staat existierte nur in glorreichen Momenten, z. B. wenn auf Schlachtfeldern Siege errungen wurden oder als der Kardinal Wojtyla zum Papst gewählt wurde. Im Juli 1946 (Pogrom in Kielce) und März 1968 hingegen gab es den Staat gar nicht.“
Ein eng mit dieser schizophrenen Sicht auf die VRP als „nichtpolnisches Polen“ verbundenes Element der Geschichtspolitik der PiS erweisen sich zunehmend Versuche, auch die Geschichte und unmittelbare Vorgeschichte der III. Republik umzuschreiben. Es geht dabei im Grunde genommen darum, einen dominierenden Gründungsmythos der III. Republik fest im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern, der den realen Verlauf der Geschichte nach 1989 und die Rolle der im neu erstandenen unabhängigen Polen agierenden Persönlichkeiten völlig neu bewertet. Verleumdungen und Umwertungen beispielsweise der Rolle des „Runden Tisches“ 1989 spielen dabei eine herausragende Rolle. Es geht dabei insbesondere um eine völlige Umdeutung der „Solidarnosc“ und der mit ihrem Wirken verbundenen Persönlichkeiten. Sicherlich bekannt sind die verleumderischen Angriffe auf Lech Wałesa, nicht so bekannt ist wahrscheinlich das Bemühen, die große Rolle der Brüder Kaczynski in den Vordergrund zu rücken. Hauptangriffspunkt ist die These, dass es überhaupt ein großer Fehler der damals agierenden Oppositionspolitiker gewesen sei, sich mit den „Kommunisten“ an einen Tisch zu setzen, hätten jene doch bereits völlig mit dem Rücken an der Wand gestanden und somit seien Kompromisse absolut unnötig gewesen. Es wird dabei bewusst negiert, dass das reale Kräfteverhältnis ein völlig anderes war, die kolportierte These von der „gestohlenen Revolution“ erweist sich als eine bewusste Täuschung, um behaupten zu können, dass damit der „Postkommune“, wie es heißt, in der III. Republik Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten verschafft wurden, die in der Zeit der Ausübung der Regierungsgewalt der Vorgängerregierungen fast zu einer bedrohlichen Staatskrise geführt haben. Diese konnte durch den Machtantritt der PiS an voller Entfaltung gehindert werden. So weit in einer sehr stark verkürzten Fassung zu dieser Problematik.
Russophobie, Antisowjetismus, Antikommunismus
In diesem Zusammenhang sei auf die Rolle des eng mit der Russophobie als Staatsdoktrin der III. Republik verbundenen Antikommunismus verwiesen. Bereits während der ersten Regierungszeit der PiS umriss Jaroslaw Kaczynski, seinerzeit Ministerpräsident, in einer Rede vor Mitarbeitern des IPN die Rolle des Antikommunismus als Grundbestandteil der Politik der PiS wie folgt: „Die polnische Demokratie und die polnische Unabhängigkeit müssen naturgemäß antikommunistisch sein. … Man kann nicht Demokrat sein und gleichzeitig ein tolerantes Verhältnis zum Kommunismus haben. Man kann nicht Anhänger der polnischen Unabhängigkeit sein und sich dem Kommunismus gegenüber tolerant verhalten. Das, was das IPN heute leistet, ist, sich dem entschieden entgegenzustellen. Das ist die Gestaltung eines echten polnischen nationalen und demokratischen Bewusstseins. Das ist nicht in Übereinstimmung zu bringen mit einer wie auch immer gearteten Akzeptanz verschiedener Formen des Totalitarismus und in Polen war das über Jahrzehnte der kommunistische Totalitarismus.“ Diese grundsätzliche Positionsbestimmung war auch nach dem Ende der ersten PiS-Regierung Richtschnur und Bestandteil der Politik der staatlichen Organe der Republik Polen, allerdings in unterschiedlich ausgeprägter Schärfe in den verschiedenen Ebenen staatlichen und kommunalen Handelns. So drohte der 2010 neu gefasste § 256 des polnischen Strafgesetzbuchs Geldstrafen und Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren an, „wer öffentlich eine faschistische oder andere totalitäre Staatsordnung propagiert oder zum Hass auf der Grundlage von nationalen, ethnischen, rassischen oder weltanschaulichen Unterschieden … aufruft“.
Eine extreme Ausprägung erfuhr die von abgrundtiefem Hass geprägte antikommunistische Komponente der offiziellen Politik des polnischen Staates allerdings nach dem erneuten Wahlsieg der PiS 2015. Da es den Regierenden offenbar nicht ausreichte, das Land mit einer Flut von antikommunistischen und antisowjetisch/antirussischen Publikationen, Reden, Losungen auf Demonstrationen und ähnlichen Versuchen der „Bewusstseinsbildung“ zu überziehen, griff man zu aus Regierungssicht offenbar für wirksamer gehaltenen Maßnahmen, in erster Linie gesetzlichen Mitteln. Am 1.6.2016 verabschiedete der Sejm das berüchtigte Gesetz über das „Verbot der Propagierung des Kommunismus oder anderer totalitärer Systeme durch Namen von Gebäuden, Objekten und anderer Einrichtungen öffentlicher Nutzung“. Dem folgte am 14.12.2017 ein Änderungsgesetz zur Präzisierung der zu beseitigenden Objekte und der Fristsetzung zum Beginn der Aktion bis zum 31.3.2018. Um allen Missverständnissen vorzubeugen, veröffentlichte unter Bezugnahme auf die gesetzlichen Vorschriften das IPN einen Katalog der „in der gegenwärtigen Etappe“ obligatorisch der Beseitigung unterliegenden Objekte. Aufgeführt werden darin im Einzelnen folgende Objekte, wobei die Aufzählung als nicht vollständig bezeichnet wird. Genannt werden folgende Kategorien:
1. Der Roten Armee gewidmete Denkmäler, einschließlich aller Denkmäler der Dankbarkeit, Brüderlichkeit und sowjetischer Partisanen
2. Den Funktionären der Polnischen Arbeiterpartei gewidmete Denkmäler
3. Der Gwardia Ludowa/Armia Ludowa gewidmete Denkmäler
4. Dem Kampf gegen den Polnischen Unabhängigkeits-Untergrund nach 1944 durch Institutionen Volkspolens und der UdSSR gewidmete Denkmäler
5. Den Funktionären Volkspolens oder kommunistischen Funktionären anderer Länder gewidmete Denkmäler
6. Der Kommunistischen Partei Polens gewidmete Denkmäler
7. Den aus Anlass von Jahrestagen Volkspolens gewidmete Bauten und Objekte
Hinzuzufügen ist dem, dass auch alle Namen von Plätzen und Straßen, die in Verbindung mit den genannten Kategorien stehen, umzubenennen sind, notfalls auf Weisung der Wojewoden, falls die Kommunen nicht dazu bereit sind.
Der Historiker Prof. Eckart Mehls lebt in Berlin / Teil II und Schluss in der nächsten UZ