Jonathan Teplitzky macht aus Churchill fast einen Pazifisten

Lyrische Verehrer-Legende

Von Klaus Wagener

Winston (Brian Cox) ist ein Kotzbrocken. Unter seinen cholerischen Anfällen leiden alle. Seine hübsche Sekretärin (Ella Purnell), Feldmarschall Jan Smuts (Richard Durden), der Generalstab und nicht zuletzt seine Ehefrau Clementine (Miranda Richardson). Winston ist ein altes Kampfschwein, das vor allem gegen eins kämpft: Die „Operation Overlord“, die Landung in der Normandie. Aber die Kriegsmaschine rollt und zwei entschlossene Männer führen sie an: Feldmarschall Bernhard Montgomery (Julian Wadham) und Supreme Commander Dwight D. Eisenhower (John Slattery).

Regisseur Jonathan Teplitzky beschränkt sich in seiner Filmbiographie des britischen Kriegspremiers auf die letzten drei Tage unmittelbar vor der Invasion 1944. Churchill, so will uns Teplitzky sagen, hatte massive Skrupel, Tausende junger Männer in den Tod zu schicken. Er hatte die Schlachtfelder des 1. Weltkrieges vor Augen und insbesondere das Landungsunternehmen auf Gallipoli (19.2.1915–9.1.1916).

Wieder und wieder schnauft, ächzt und wütet Winston – im Film duzen sich alle – durch die Szenen und breitet seine Proteste mit dem Pathos eines altgriechischen Rhetors aus. Er, der Kriegspremier, vor wenigen Jahren noch Erster Lord der Admiralität, ist ausgebootet. Eine Niederlage, die sein Ego kaum verdauen kann.

Die Verkürzung des anspruchsvoll-umfänglich „Churchill“ betitelten Biopics auf wenige Tage und einen ausgesprochen fragwürdigen Aspekt, der, wohlwollend formuliert, ziemlich barocken Vita des britischen Adligen macht aus dem zynisch-imperialen Machtpolitiker fast so etwas wie einen Pazifisten. Als nichts mehr zu verhindern ist, will er aufs Schiff und die Invasionsflotte, seine Männer, anführen. Eine grandiose, aber umso sinnlosere Pose des „Demagogen von hohen Graden“, wie schon Sebastian Haffner wusste. Nur durch die Intervention Georges VI. (James Purefoy) gelingt es, ihn davon abzubringen.

Die Invasion Gallipolis war Churchills Baby gewesen. Als Erster Lord der Admiralität hatte er wochenlang für den Angriff auf die Dardanellen getrommelt. Er wurde ein Desaster. Obwohl personell und materiell deutlich überlegen, verloren die Briten und die verbündeten Franzosen sechs Kriegsschiffe, 50 000 Mann und 130 000 Verwundete. Auch als der Seeangriff längst zur Katastrophe geworden war, wollte Churchill stur weitermachen. Rationale Lagebeurteilung und militärisch-operative Geschmeidigkeit waren nie die Stärken des „Größten Briten aller Zeiten“ (BBC-Umfrage 2002). Eher schon die klassenbornierte Arroganz und das rassistische Überlegenheitsgefühl eines führenden Vertreters des bluttriefenden British Empire, errichtet auf Bergen von Millionen Toten. Alles andere war ihm eh nur Bullshit.

Das Schicksal der Hunderttausenden des Expeditionskorps, Working Class aus allen Ecken des Empire, hatte den skrupellosen Imperialisten weder 1915 noch 1944 interessiert, wenn es nicht die Demagogie erforderte. Araber, Inder, Chinesen, Afrikaner, aber auch Deutsche und Italiener galten ihm als minderwertig. Schon früh hatte sich Churchill mit Eifer in Kolonialkriegen gegen die „barbarous people“ engagiert. Mit einer gewissen „Schwäche“ für Konzentrationslager und Giftgas, war er an den größten Brutalitäten des Empire maßgeblich beteiligt. Im rassistischen Überlegenheitsgefühl war er sich mit dem der deutschen Oberschicht ziemlich einig. Mit dem Unterschied, dass er logischerweise die Angelsachsen für das auserwählte Volk hielt. Sein moralisches Etikett eines Kampfes für Freedom and Democracy war nicht nur Theater, sondern blanker Zynismus. Dass er ausgerechnet dann, als es für die Westalliierten darum ging, den Sack zuzumachen, also ihren Anteil an Nachkriegseuropa militärisch zu sichern, von humanistischem Schwindel befallen worden sein soll, dürfte in die Kategorie Verehrer-Legende fallen.

Churchill war ins Amt gekommen, als der Versuch, den deutschen Expansionismus in einen antisowjetischen Vernichtungsfeldzug zu kanalisieren, gescheitert war. Diese heute als Appeasement-Politik etikettierte Strategie hatte im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) selbstredend nicht die seit den 1890er Jahren bestehende Erkenntnis verdrängen können, dass für das „Reich in der Mittellage“ ein Erfolg im Osten die möglichst uneingeschränkte Nutzung der Ressourcen Westeuropas zur Voraussetzung hat. Dies galt im Zeitalter motorisierter Armeen, mechanisierter Kriegführung umso mehr. Die angloamerikanischen Mächte beherrschten den Zugang zu kriegsentscheidenden Ressourcen, vor allem zum Öl. Der deutsche Weltmachtanspruch musste also gegen Britannien und die USA durchgesetzt werden. Genau das hatte das OKW 1939 begonnen.

Die „Coventrierung“ (Goebbels) der englischen Zentren ließ keinen Platz für taktische Finessen. In dieser Lage war ein bedenkenloser Haudrauf wie Churchill der richtige Mann. Nach der deutschen Besetzung Norwegens ersetzte er im Mai 1940 den gescheiterten Neville Chamberlain. 1941, vor Moskau und Leningrad, wurde der Weltmachtanspruch des deutschen Faschismus zur realen Möglichkeit. Es entstand für die Westalliierten die strategische Notwendigkeit eines – Churchill verhassten – Bündnisses mit dem Bolschewismus und der Eröffnung einer zweiten Front im Westen. Roosevelt hatte Molotow die Landung im Westen für 1942 zugesagt, aber Churchill hielt ultimativ dagegen. Aber kaum aus Sorge um das Wohlergehen der Soldaten. Da hatte er nie Skrupel. Krieg wurde – wie im strategischen Bombenkrieg – auch von britischer Seite mit aller Härte auch gegen die Zivilbevölkerung geführt. Sondern weil im Hinauszögern der Invasion die Möglichkeit des lachenden Dritten lag, „Stalin“ und „Hitler“ sich gegenseitig „ausbluten“ zu lassen. Die geostrategische Grundkonzeption des anglo-amerikanischen Imperiums bis heute.

Im Sommer 1944 entfiel die Voraussetzung für Taktierereien. Die Rote Armee war im Begriff, die gesamte Heeresgruppe Mitte zu zerschlagen und damit auch alleine die Voraussetzungen für den Sieg über Nazideutschland zu schaffen. Damit entstand für den „Westen“ die Gefahr, die Kontrolle über Nachkriegs-Westeuropa zu verspielen. Wieder einmal standen Churchill seine militärische Unbeweglichkeit und seine Arroganz im Wege. Der große Kriegs­premier musste von den Militärs schlicht beiseitegeschoben werden, wollten sie nicht im Wettlauf nach Berlin den Kürzeren ziehen. Sein demagogisches Talent wurde erst wieder im Kalten Krieg gebraucht: „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet.“

Der Film weiß von alldem nichts. Er menschelt mit einem zerknautscht-skurrilen, aber irgendwo auch liebenswerten Kotzbrocken und seinen Eheproblemen herum, der von seinem König und von seiner Sekretärin, der typischen jungen, aufrichtigen Frau aus dem Volk mit dem Herz am rechten Fleck, auf seine Rolle verwiesen wird. Natürlich wird der Krieg wieder in der Normandie entschieden und er, der große Kommunikator, hat die Pflicht, das Klasseninteresse als nationale Aufgabe zu verkaufen. Warum es süß und ehrenvoll ist fürs Vaterland zu sterben.

Mit der Niederlage des Roten Oktober ist der imperialistische Krieg wieder Normalzustand geworden und das menschelnde Biopic die Form konservativer Heldenverehrung. Ob Elizabeth I., Margaret Thatcher, J. Edgar Hoover, George VI., die Romanows, Eva Perón, Erwin Rommel … – es sind doch alles nur Menschen. Fast wie du und ich. Und das alte, brutale Kampfschwein Winston? Klar, der gehört auch dazu. Genauso wie der Heldentod.

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"Lyrische Verehrer-Legende", UZ vom 2. Juni 2017



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