Klaus-Rüdiger Mai
Gehört Luther zu Deutschland?
Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016, 207 S., 19,99 Euro
Der Titel „Gehört Luther zu Deutschland?“ weist nicht nur auf das Reformationsjubiläum 2017 voraus, sondern spielt auf ähnliche Formulierungen an, wie sie in den letzten Jahren üblich wurden – „Gehört der Islam …, gehört die AfD …“ usw. –; der Verfasser will solche Fragestellungen provozieren, sie als unhistorisch und undialektisch brandmarken: Was heißt schon zu etwas zu gehören, wenn sich Geschichte weltweit nach ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeiten und sozialen Widersprüchen bewegt und entwickelt. Wenn man allein die historische Bedeutung des Islam aus der deutschen Kulturgeschichte streichen würde, sähe es betrüblich aus, es fehlte vom arabischen Zahlsystem bis zu Goethes „West-östlichem Divan“ vieles, um Eckpunkte zu nennen. Ein Blick in die Kulturgeschichte würde Antworten geben, aber sie wird den meisten Menschen immer fremder und selbst der CDU-Fraktionsvorsitzende Kauder kennt den „West-östlichen Divan“ nicht mehr, in dem es heißt: „Wer sich selbst und andere kennt,/Wird auch hier erkennen:/Orient und Okzident/Sind nicht mehr zu trennen.“ Klaus-Rüdiger Mai fordert die Besinnung auf die Kulturgeschichte ein, das Reformationsjubiläum ist dazu ein Anlass; seine These ist, dass mit der Reformation eine geschichtliche Epoche begann, – man kann sie auch die frühbürgerliche nennen –, die zu Ende geht und weshalb die Welt dringend eine neue Gesellschaft verlangt. Mai nennt sie „eine neue Reformation“, die andere herrschende Kräfte verlangt.
Mais Fragestellung ist scheinbar eine Provokation, denn wer wollte in Frage stellen, dass Luther zu Deutschland gehört. Er gehört mit seinen ausgesprochenen Stärken dazu, die von Bedeutung für die politische, sprachliche, ethische und soziale Entwicklung wurden, und er gehört mit seinen Fehlern – auch mit seinem Antijudaismus, der kein Antisemitismus ist und auf das Theologische begrenzt blieb – dazu, denen nicht anzulasten ist, was die Deutschen historisch an Verbrechen an den Juden begingen, ist das doch eine billige Art, sich von Schuld freizusprechen: Luthers war’s! So wurde aus dem Reformator selbst in der EKD ein „Objekt der Kritik“, ein „Vielgescholtener“. Das mutet an wie heutige deutsche Außenpolitik, die auf jede Schuldfrage die Antwort hat: Putin war’s! Also: Luther gehört zu Deutschland. Doch die These ist zu hinterfragen, denn zu Luthers Zeit gab es kein staatlich gefügtes Deutschland. Das gab es erst seit 1871 in der Form des Deutschen Reiches. Da war Luthers Erbe je nach Bedarf aufgeteilt, in protestantischen Ländern in Anspruch genommen für nationale Identität und in katholischen Ländern verketzert als die Inkarnation alles Bösen. Was ist da schon Deutschland! Es geht dem Autor, wie schnell deutlich wird, nicht um Luther, sondern um die Bedeutung der Reformation als Ausgangspunkt der Moderne. Mai sieht die Reformation nicht als einen theologischen Vorgang, sondern als einen gesellschaftspolitischen Ausgangspunkt, der von provozierender Aktualität bei den Fragen Freiheit, Verantwortung und Gewissen – das heißt auch soziale Gerechtigkeit – ist. Und er stellt fest, dass der Mensch als gesellschaftliches Wesen zu Beginn des 21. Jahrhunderts viel von diesen Qualitäten verloren hat oder sie ihm genommen wurden, indem er zum Spielball der Politik geworden ist, auch durch die unbeschränkte Auflösung des Menschen in Daten, die zu jeder Art von Profilen und damit zur Manipulierbarkeit genutzt werden können. Statt in Freiheit anzukommen wird der Mensch von einem Überwachungskapitalismus missbraucht.
Mai analysiert genau – so den „doppelten Betrug“ an der „Mehrheit der Menschen in Europa“, um Großkapital und Finanzindustrie zu begünstigen; er schreibt zugespitzt und unakademisch, manchmal „unfertig“, wie er vermerkt. In seinen Verkürzungen wird er oft schroff, was in Anbetracht der von ihm ausgemachten Bedrohung der Freiheit und des menschlichen Individuums verständlich ist. Als Teil einer Lösung erinnert er daran, sich der „geistigen Grundlagen“ Europas zu erinnern. Eine davon ist ihm Martin Luther, den er als „Gesellschaftstheoretiker und –praktiker“ versteht. Einen Blick auf Thomas Müntzer als Alternative hätte man sich zusätzlich und Luther ergänzend gewünscht. In Fortsetzung Luthers argumentiert Mai dann mit Lessing und der Aufklärung, Kant und Karl Marx, die er zum Maßstab historischen Denkens macht, von dem sich „Europas Eliten“ heute verabschiedet haben, was zu der desaströsen Lage geführt hat.
Auch wenn Mai viele seiner Fragen aus dem Verhältnis zum Christentum herleitet und man mit ihm nicht immer mitgehen kann, auch wenn manchen seiner Einschätzungen wie zu den Veränderungen 1989 widersprochen werden muss, so kommt er doch immer wieder zu Parallelen mit sozialistischen Gesellschaftslehren: „Ohne Freiheit wird es keine Gleichheit geben.“ Freiheit ist für ihn dabei ein Vorgang des Forderns, der Bewegung: „Freiheit ist nicht, Freiheit wird immer nur.“ Damit setzt er sich wohltuend von den populistischen Vorstellungen von Freiheit ab, wie sie immer wieder aktuell sind. Parallel geht er den historischen Grundlagen für heute oft leere Floskeln wie „deutsche Identität“ nach und findet die Wurzeln dieser Identität in diesem Falle in einem „geistigen und kulturellen Raum“, der international ist und der das Erbe des römischen Reiches angetreten hat und so zu einer idealisierten Zielvorstellung wurde, gebildet aus der Nachfolge der antiken und universellen Kultur des alten Europas, fern aller nationalistischen Einseitigkeit, vermittelt wesentlich durch Martin Luthers Sprachbemühungen. Das ist das Deutschland, zu dem Luther gehört.
Es gibt kaum ein Feld, das Mai nicht beachtet und auf dem er keinen Verfall entdeckt, Ohnmacht und staatliche Hilflosigkeit im Angesicht der Wirtschafts- und Finanzmacht. Damit gehen Mensch und Individualität verloren, an ihre Stelle treten „mathematische Modelle“, Ausdruck von Entfremdung und Unmenschlichkeit. Auch dafür findet er Entsprechungen zu Beginn der Neuzeit, als sich ein Paradigmenwechsel abzeichnete. In den Parallelen, – „Demokratie und das Recht auf Individualität werden in ein Schattendasein getrieben“ – findet er die Ankündigung eines neuen Paradigmenwechsels, nach dem Zusammenbruch des „letzten großen alternativen Systems, des Sozialismus“ und dem Verpassen der Chance, 1989 über die Zukunft eines vereinigten Deutschlands nachzudenken, habe der „entfesselte Finanzkapitalismus“ eine Dauerkrise geschaffen, in der das Recht der Individuen endgültig vom „Recht der Oligarchen“ abgelöst werde, begleitet von der „schleichenden Verarmung der Menschen in der westlichen Welt“. Das ist für Mai der Beginn einer „revolutionären Situation“.
Mais Buch ist anstrengend, reizt partiell zum Widerspruch, gibt aber Denkanstöße zur politischen und gesellschaftlichen Zukunft. Während einerseits der tägliche politische Kampf notwendig ist, um die auch von Mai erkannten sozialen Zuspitzungen im Detail zu bekämpfen, zu verändern oder mindestens aufzuhalten, zielt das Buch auf einen Entwurf eines Paradigmenwechsels, einer „Veränderung der wirtschaftlichen, sozialen, kommunikativen und moralischen Konstanten“.
An die Spitze seines Essays stellt Mai u. a. ein Zitat aus einem Flugblatt der Weißen Rose: „… jeder Einzelne hat einen Anspruch auf einen brauchbaren und gerechten Staat, der die Freiheit des Einzelnen als auch das Wohl der Gesamtheit sichert.“ Das gehört zu Deutschland, als erstrebenswertes Ziel. Darum geht es in diesem Buch. In diesem Sinn ist Mai bei allen geistigen Unterschieden, ja Gegensätzen ein Verbündeter.