Wolfgang Lieb, langjähriger Mitarbeiter in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes ab 1979, Regierungssprecher in NRW unter Ministerpräsident Johannes Rau, Autor und Mitherausgeber der Website „NachDenkSeiten“ von 2003 bis 2015, hat im pad-Verlag eine Studie über die sich verändernde Medienlandschaft der Bundesrepublik veröffentlicht. Im Mittelpunkt steht der Einfluss der Medien auf die politische Meinungsbildung. Gegenstand sind die alten Medien wie Zeitungen, Hörfunk, Fernsehen und die neuen Sozialen Medien des Internets.
Entstanden ist eine Soziologie der heutigen Medienwelt und ihrer Wandlungen mit einer Fülle von Informationen zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeit und Demokratie, zur anwachsenden Konzentration in der Medienwelt, zu den Sozialen Medien als Überwachungs- und Datenkraken, zum Konflikt zwischen der Politik und den Tech-Giganten, zur kommunikativen Macht der großen Internetplayer. Hinweisen muss man auf die 500 Anmerkungen der Hefte, die Hintergründe beleuchten.
Die Studie ist lesenswert, weil sie eine Vielzahl von Kenntnissen zu wichtigen Details und Trends in der heutigen Medienwelt der Bundesrepublik vermittelt. Der Kampf um Meinungsmacht ist unübersichtlicher geworden. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit geht nicht zuletzt mit einer „Verrohung der Sprache“ einher. Die Auflage der großen Tageszeitungen ist seit 1991 um die Hälfte zurückgegangen. Allein Facebook hat heute 32 Millionen Nutzer in Deutschland. Noch rund 43.500 Journalisten stehen 30.000 bis 50.000 PR-Mitarbeitern in der Wirtschaft gegenüber. Die Zahl der Blogs liegt nach Schätzungen bei 200.000 und die Zahl der Blog-Posts bei zwei Millionen. Der Anteil derjenigen, die den Medien nicht vertrauen, hat sich verdreifacht. Ehemals kritische Medien sind folgsamer geworden. Das Internet ist zur polSWitischen Radikalisierungsplattform von rechtsradikalen Gruppen geworden und stellt „besondere Mittel der Propaganda“ nicht zuletzt auch für Wahlkämpfe bereit.
Lieb versteht sich als kritischer Beobachter und Analytiker der politischen Rolle der Medien. Medienkritik sei eben eine „urlinke“ Aufgabe. Zu den Apologeten der Printmedien als „Wahrheitspresse“ geht er deutlich auf Distanz. Den Begriff der „Lügenpresse“ hält er für „problematisch, falsch und gefährlich“. Der Begriff sei „undifferenziert“ und in Vergangenheit und Gegenwart durch die Nazis besetzt worden. Er negiere die oft „informativen und gut recherchierten Beiträge“ in den Medien.
Liebs kritische Analyse will die „Gründe und die Strukturen“ der Abkehr vom Ideal einer „diskursiven Meinungs- und Willensbildung“ offen legen. Er weist an zahlreichen Beispielen nach, dass bei der Berichterstattung in den alten Medien dieses Ideal „ziemlich weit weg von der Wirklichkeit“ ist. Ob es nun um die Ukraine geht, um „Putin“, um die Finanzkrise oder die US-amerikanische Präsidentenwahl, die Berichterstattung erweist sich „als devot gegenüber der regierenden Politik“. Lieb verweist auf die Einbindung der Medien, ihrer Herausgeber und Chefredakteure „in das Elitenmilieu“, auf deren enge Verbindung zu den internationalen Think-Tanks des Kapitals wie „Atlantik-Brücke“ oder „Trilateral Commission“ auf die beherrschende Stellung von zehn Verlagsgruppen und auf den Charakter der Medien als „Werbe- und Vermarktungskonzerne“.
Die bekannte Aussage von Marx und Engels aus dem Jahre 1848 über die „herrschenden Ideen einer Zeit“, die „immer nur die Ideen der herrschenden Klasse“ waren, bringt Wolfgang Lieb nicht. Aber er belegt diese Einschätzung und „die Disposition der herrschenden Klasse über die Mittel der Meinungsbildung“ mit einer Fülle von Fakten. Sein Hinweis, dass 26 Prozent bei einer neueren Umfrage meinten, die Leitmedien seien „Sprachrohr der Mächtigen“, rechtfertigt einen bescheidenen Optimismus, zeigt aber auch, dass der täuschende Schein eines offenen und demokratischen Meinungsbildungsprozesses nach wie vor im politischen Alltagsdenken dominant ist.
Wolfgang Lieb, Jenseits der Lügenpresse (I und II), Kann das Internet die klassischen Medien ergänzen oder gar ersetzen? Bd. 1: Medienwelt im Umbruch, 65 Seiten – Bd. 2: Die neuen Medien, 77 Seiten. Bergkamen 2020, je 6 Euro. Zu beziehen über pad-verlag, am Schlehdorn 6, 59192 Bergkamen, E-Mail: pad-verlag@gmx.net