Mogeln als gewünschte und folgenschwere Kreativarbeit

Lügengeprassel

Von Ken Merten

Thomas Klupp

Wie ich fälschte, log und Gutes tat

Berlin Verlag 2018, 256 Seiten

20 Euro (eBook: 17,99 Euro)

Wer mal geflunkert hat, kennt das: die Lüge hängt an einem wie Kaugummi im Freibad an der Adiletten-Schuhsohle. Das Lügen ist eine allgegenwärtige Kulturpraxis. Selten wurde sie in der bürgerlichen Gesellschaft so breit thematisiert, mit Stichworten wie Fake News oder Alternative Fakten. In der sogenannten Postmoderne, die keine Wahrheiten kennt, wird Lügen ideologisch auf eine neue qualitative Stufe gehoben.

Grund genug für Thomas Klupp, neun Jahre nach dem Debüt, der Road Novel „Paradiso“, seinen Zweitling voll und ganz um Betrügereien im kleinen und weniger kleinen Stil kreisen zu lassen. Ich-Erzähler Benedikt „Dschägga“ Jäger ist mit seinen 15 Jahren ein junger Meister darin. Als Chirurgensohn in der Oberpfalz, mit Zwillingsschwestern, die in Boston Jura studieren und einer depressiven, hauptberuflichen Charity-Lady als Mutter, liegt die Diagnose ziemlich eindeutig auf der Hand: Wohlstandsverwahrlosung muss die Ursache sein für Benedikts manisches Lügen und Herumdoktern an Tatsachen.

Denn außerhalb seiner sportlichen Nachwuchskarriere im Tennis, wo er auf dem Court im Gegensatz zum Rest seines Lebenswandels kein Betrüger ist, legt Benedikt die Wahrheit mit einer emsigen Leidenschaft zu seinen Gunsten aus und um, als wäre er die Leistungsgesellschaft im Falschen per se. Das digitale Info-System der Schule, mit dem Eltern ganz unkompliziert und papierfrei (immerhin ist das Kepler-Gymnasium die erste „Energieeffizienzschule Ostbayerns“) das Abschneiden ihrer Kinder überwachen können, hat Benedikt gekonnt umgangen, indem er die Mailadresse der Mutter abgeändert und einen neuen Account eingerichtet hat, über den er jede Nachricht abfangen und abändern kann. Bei Prüfungen bescheißt er im großen Stil. Seine Klausuren fälscht er aufwändig. Selbst die Bestnoten in Französisch, um nicht aufzufliegen. Und auch wenn er mit Tennisschläger auf Plakaten für die Anti-Drogen-Kampagne „Need No Speed“ posiert, kifft und säuft er für sein Alter exorbitant viel, „alle Jubeljahre mal ein Briefchen Crystal“, und freundet sich mit dem Parallelwelten-Guru Crystal-Mäx an. Aus Liebe und für Geld hilft er seiner geltungssüchtigen Mutter dabei, ihren Schein noch aufzuhellen. Nicht nur bei Proseccoempfängen des „Lions-Club“, wo Geflüchtete für ein „Buntes Weiden“ hinter dem Grill stehen und die bürgerliche Geilheit nach Altruismus mit deren dekadentem Hang zum Knechten verschmilzt. Überhaupt ist Benedikt mit seinem Flunkerfetisch in entsprechender Gesellschaft: Im beschaulichen Weiden, nahe der Grenze zur Tschechischen Republik, wird gelogen und gehalbwahrheitet, bis sich die Biobrezeln biegen. Schon die Mutter musste als unehelich gezeugt in der katholischen Hinterwelt heimlich geboren werden. Wenn diese sich dann kultivierter darstellt, als sie ist, dann entspringt das der Furcht der sozialen Aufsteigerin (die Verwahrlosung noch im Original durch die regelmäßige Tracht Prügel daheim kennt), immer Teil der unteren Schichten zu bleiben, egal wie hoch man heiratet. Andere pflegen offene Geheimnisse, wenn sie mit Bordellen auf beiden Seiten der Grenze ihren Reichtum beziehen, à la Crystal Mäx Spendengelder veruntreuen, wie Benedikts Vater Steuern hinterziehen oder sie bemühen sich als Schulleiterin nur dann um die Wahrheit, wenn es darum geht, der Vorzeigeschule noch ein weiteres Prädikat zu ergattern, hin zum Endziel, „Schule der Zukunft“ zu sein.

Nicht verwunderlich, wenn Benedikt sich da angespornt fühlt und übermütig vorangeht. Er hat den Punkt weit überschritten, an dem ihm das Mogeln einen Vorteil verschafft, aber dafür sind die Lügen zu nah an ihm dran und als überbeanspruchtes Instrument längst mit ihm verwachsen. Wegen seiner eigenen Schularbeiten plagt er sich ab, gleich ob diese nun miss- oder gelungen sind. Damit ist er stets zurückgeworfen auf sich selbst, Kreativität im engsten Rahmen, eine Kunst, die sich ständig nur reproduziert.  Auch wenn er noch so oft nicht auffliegt, wird mit jedem seiner Siege der Einsturz des Lügenbergs am Horizont durch sein Anwachsen deutlicher. Diese sub­stanzlose, oberflächliche, unserer Zeit entlehnte Art von Selbstverwirklichung bzw. -optimierung kann hier nur ein Chaos stiften, das früher oder später auf den Verursacher herniederprasseln wird. Militärisch gesprochen: Jede gewonnene Schlacht bringt Benedikt der totalen Niederlage näher.

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"Lügengeprassel", UZ vom 5. Oktober 2018



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