Ding Liren und Gukesh Dommaraju denken sich durch die Schach-WM

London, Italien, Damen-Gambit

Melina Deymann und Vincent Cziesla

Die Gespräche sind seltsam geworden in den Redaktionsräumen der UZ, das geben wir offen zu. „Jetzt muss er aber echt mal langsam aufhören zu denken!“ rufen wir sonst eher selten zum anderen Schreibtisch rüber. Doch seit Montag vergangener Woche ist alles anders: Wir bangen mit beim Zeitvorteil für den Gegner, zeigen uns erstaunt über den Einstieg mit der „Italienischen Partie“ oder mit der Reaktion auf das Damen-Gambit. Denn Ding Liren spielt gegen Gukesh Dommaraju um die Weltmeisterschaft im Schach.

Nachdem Ding das erste Spiel mit Schwarz zwar im Endeffekt souverän, aber mit viel „verdachter“ Zeit gewonnen hatte, einigten sich die beiden Protagonisten im zweiten Spiel auf ein Remis und Ding verlor das dritte Spiel am Mittwoch vergangener Woche. Nach einem Ruhetag blieb die Redaktion am Freitag verdutzt zurück: Was für eine Eröffnung hat Ding da gespielt? Wir waren mit der Verwirrung nicht allein: Gukesh tat sich schwer, die Kommentatoren der verschiedenen Kanäle wussten auch nicht so ganz, und doch fing Ding wieder an zu denken – und das Spiel endete im Remis. Am Samstag direkt die nächste Überraschung: Gukesh eröffnete mit dem Königsbauern, Ding reagierte schon zum zweiten Mal während dieser WM mit der für ihn untypischen französischen Verteidigung – und Gukesh konnte das gar nicht wechseln. Leider übersah Ding im weiteren Verlauf seine Siegchance und beide einigten sich auf Remis. Beim sechsten Spiel am Sonntag dann schließlich eröffnete Ding mit dem Londoner System und Gukesh zeigte sich mehr als erstaunt. Nach kurzer Sammelphase ging es so rasant zu, dass man sich fragte, ob es neue Regeln gibt, die besagen, dass die sechste Partie als Blitzschach ausgetragen werden muss. Doch der klar überlegene Ding bot ein überraschendes Remis an. Sichtlich genervt schlug Gukesh das aus – im Verlauf der Partie sollte er das noch bereuen. Begleitet von viel Nachdenkerei auf beiden Seiten blieb Ding im Vorteil, aber nur knapp. Beide spielten mit rund 99-prozentiger Genauigkeit. Das zweite Angebot zum Remis nahm Gukesh dankend an. Zuhause vor den Bildschirmen fluchten wir, weil Ding zu wenig auf Risiko spielt. Er könnte sich mehr zutrauen.

Und jetzt sitzen wir hier, am Montag war Ruhetag, die siebte Partie läuft, der Redaktionsschluss naht – wenn diese Ausgabe von UZ erscheint, werden die Leserinnen und Leser schon genauer wissen, wie sich diese WM entwickelt. Uns bleibt da nichts übrig, als an die Vorgeschichte zu erinnern. Die war in den vergangenen Monaten von der Aufregung über ein scheinbar ungleiches Duell geprägt.

Mit dem in vielen Zeitungen als „Wunderkind“ gepriesenen 18-jährigen Inder Gukesh hatten die bürgerlichen Medien in Deutschland schnell einen Liebling gefunden. Sieger im Kandidatenturnier, jung, aggressiv, in Bestform – wer sollte ihn stoppen? Der Weltmeister jedenfalls nicht, so die Erzählung. Ganz aus der Luft gegriffen schien das nicht. Immerhin hatte Ding Liren schon bei seinem Weltmeisterschaftssieg gegen Jan Nepomnjaschtschi über psychische Probleme geklagt. Danach tauchte Ding für lange Zeit ab, von Depressionen, Schlafstörungen und Klinikaufenthalten war die Rede. Bei den Turnieren, an denen er in der Zeit zwischen den Weltmeisterschaften teilnahm, wirkte er wie ein Schatten seiner selbst. 304 Tage gelang ihm kein einziger Sieg im klassischen Schach. In dieser Zeit stürzte er auf Platz 23 der Weltrangliste ab. „Dem Weltmeister droht eine vernichtende Niederlage“, orakelte der „Spiegel“ vor diesem Hintergrund noch am Tag des ersten WM-Spiels.

Kein Wunder, dass Dings Auftaktsieg die Schachwelt kalt erwischte. Schnell wurden Gukeshs unglücklicher Start der hohen Nervosität des Herausforderers zugeschrieben und historische Parallelen gezogen. Auch der „legendäre Bobby Fischer hatte nicht gerade den perfekten Start“, erinnerte beispielsweise „chessbase.com“. Stimmt, der US-Amerikaner Fischer hatte im Jahr 1972 seine erste Partie gegen den sowjetischen Weltmeister Boris Spasski verloren. Die zweite Runde gab er vor Beginn auf, weil ihn die anwesenden Fernsehkameras störten. Fischer drohte sogar, die Weltmeisterschaft ganz zu beenden. Spasski hätte kampflos siegen können, wollte jedoch spielen und ging deshalb auf Fischers Forderung ein, in einem Nebenraum ohne Zuschauer weiterzumachen. Fischer gewann schließlich den Weltmeistertitel. Doch der eigenwillige Großmeister zeigte sich als wenig brauchbar für den großen Triumph im Kalten Krieg. Einem Empfang von US-Präsident Nixon blieb er fern, beim nächsten Weltmeisterschaftskampf gegen Anatoli Karpow trat er nicht mehr an. Fischer, dem zahlreiche antisemitische, rassistische und frauenfeindliche Haltungen zugeschrieben worden, verschwand aus der Öffentlichkeit.

Spätestens hier schwächelt der historische Vergleich. Denn weder Ding Liren noch Gukesh Dommaraju dürften diese Art von Karriere wiederholen. Nun ist es aber spät geworden. Höchste Zeit, diese Ausgabe fertig zu machen. Und heimlich immer wieder auf die Übertragung zu schauen und Ding Liren weiter die Daumen zu drücken.

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"London, Italien, Damen-Gambit", UZ vom 6. Dezember 2024



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