Streik bei „Teigwaren Riesa“ verdeutlicht Arbeitsbedingungen in Ostdeutschland

Lohnmauer einreißen

Die Mauer muss weg“ war ein häufig gehörter Ruf im Herbst 1989 in der DDR. Wenige Monate später war der sozialistische Staat Geschichte und das Land mit seinen Bewohnern westdeutschen Konzernen und der Treuhand schutzlos ausgeliefert. Im sächsischen Riesa soll nun dreißig Jahre nach diesen dramatischen Ereignissen eine ganz andere Mauer verschwinden. „Lohnmauer einreißen. Jetzt! 30 Jahre Wende. Endlich Lohngerechtigkeit schaffen“, war auf einem Transparent der streikenden Beschäftigten des Nudelproduzenten „Teigwaren Riesa“ zu lesen.

Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hatte diese am 27. Juli zu einem mehrstündigen Streik aufgerufen. Die Produktion in der sächsischen Teigwarenfabrik stand bis zum nächsten Morgen still. Ziel des Arbeitskampfes war, durch den Abschluss eines neuen Entgelttarifvertrags die bestehende Lohnlücke zu vergleichbaren Betrieben in Westdeutschland zu schließen. Die NGG beziffert diese im Schnitt mit weit über 700 Euro monatlich. Die unterste Lohngruppe liege aktuell nur 34 Cent oberhalb des Mindestlohns. Selbst Facharbeiter erhalten gerade einmal 13 Euro pro Arbeitsstunde. Durch einen verbindlichen Stufenplan soll nun die große Lohndifferenz gegenüber dem Westniveau Stück für Stück verringert werden.

Die Kapitalseite hat sich allen Verhandlungen verweigert. Frühestens 2022 sei man bereit, über Lohnerhöhungen zu sprechen. Lohnerhöhungen waren aus Sicht der Unternehmer schon immer gleichbedeutend mit dem eigenen wirtschaftlichen Ruin. Dieser Logik folgend behauptet die Betriebsleitung, dass selbst eine schrittweise Lohnangleichung vom Unternehmen nicht zu leisten sei, und schürte die Angst vor einer möglichen Insolvenz unter den Beschäftigten.

Das niedrige Lohnniveau bei Riesa Teigwaren ist kein Einzelfall, sondern steht stellvertretend für die Arbeitsbedingungen in Ostdeutschland. Generell gilt zwischen Eisenach und Görlitz die Regel: Es wird länger gearbeitet als im Westen und dies für deutlich weniger Lohn. Jeder dritte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Ostdeutschland arbeitet im Niedriglohnsektor. Im Vergleich dazu liegt der Anteil der Niedriglohnempfänger in Vollzeitjobs in den westdeutschen Bundesländern bei „nur“ 16,5 Prozent. In absoluten Zahlen ausgedrückt müssen mehr als 1,2 Millionen in Vollzeit Beschäftigte im Osten ihre Arbeitskraft für weniger als 2.203 Euro brutto im Monat verkaufen.

Noch bis in die 2010er Jahre wurde diese extreme Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft in einigen „neuen Bundesländern“ sogar offensiv als Standortfaktor beworben. So legte die ehemalige CDU-geführte Landesregierung in Erfurt eine Werbekampagne mit dem Titel „Niedriglohnland Thüringen“ auf. Diese wurde zwar mit dem Regierungswechsel zu „Rot-Rot-Grün“ eingestellt, aber an dem Lohnniveau im Freistaat hat sich nach dieser kosmetischen Maßnahme nichts geändert. Hierzu hätte an anderen Stellschrauben gedreht werden müssen, wie zum Beispiel der niedrigen und seit Jahren zurückgehenden Tarifbindung. Im Osten wird gerade noch in 20 Prozent der Betriebe nach Tarif gezahlt. Nur 45 Prozent der Beschäftigten erhalten einen Tariflohn und auch dieser ist in der Regel niedriger als vergleichbare Löhne im Westen.

Die Ursachen für die Lohnmauer liegen jedoch tiefer und sind die Folge der Ereignisse von 1989/90. Nachdem „die Mauer weg“ und die DDR von der politischen Landkarte verschwunden war, wurde die bis dahin achtgrößte Volkswirtschaft der Erde in eine „Sonderwirtschaftszone Ost“ transformiert. Aus den ehemals volkseigenen Betrieben und Kombinaten, die die Privatisierungen und den Kahlschlag durch die Treuhand überlebten, wurden „verlängerte Werkbänke“ westlicher Konzerne. Diese Entwicklung war kein bedauerlicher „Unfall“ oder Kollateralschaden im sogenannten Einigungsprozess, sondern war von den neuen Herren politisch und ökonomisch genau so gewollt. Ostdeutschland diente ihnen in den 1990er Jahren als Experimentierfeld und Blaupause für die neoliberale Umgestaltung, die dann auch im Westen folgen sollte.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Lohnmauer einreißen", UZ vom 6. August 2021



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Auto.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit