Auf ihrer Internetseite hat die Marx-Engels-Stiftung als Teil der Aktualisierung ihres Online-Auftritts eine neue Rubrik eingeführt: „Marx Engels aktuell“. Sie wird gestaltet von Manfred Sohn, der sich monatlich mit theoretischen Erkenntnissen von Karl Marx und Friedrich Engels befasst, die hilfreich sind, sich in der heutigen Welt zu orientieren. Im August schreibt Sohn über einen Vortrag, dessen erster Teil am Dienstag, dem 20. Juni 1865, um 21.00 Uhr in London auf einer Versammlung der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (IAA) gehalten wurde. Die Arbeiter, welche die IAA wesentlich mit prägten, konnten erst nach einem langen Tag an solchen Debatten teilnehmen. Die Uhrzeit des eine Woche später gehaltenen zweiten Vortragsteils ist nicht überliefert. Die Debatten um den Vortrag innerhalb der IAA hielten bis in die Augustsitzungen hinein an. UZ dokumentiert Sohns Online-Artikel in redaktioneller Bearbeitung.
Gegenwärtig bereiten sich nicht nur die Medien, sondern auch die Gewerkschaften und mit ihnen hunderttausende von Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten dieses Landes auf die Lohnrunden im kommenden Herbst vor. Es wird Maßhalteappelle hageln und allerlei großformatige Zeitungsartikel und Talkshow-Monologe staatlich besoldeter und zusätzlich von Unternehmen kofinanzierter Ökonomieprofessoren geben, die „nachweisen“, dass entweder in unseren Zeiten keine Reallohnerhöhungen möglich wären oder sie – wenn die sturen Gewerkschaftsbosse sie durchsetzen sollten – den Tariflohnempfängern sogar unter dem Strich durch umso höhere Inflation schaden würden.
Innerhalb vieler Betriebe und auch innerhalb mancher gewerkschaftlicher Diskussion in Betriebsgruppen, in den Personal- und Betriebsratsbüros oder auf Zusammenkünften gibt es dagegen eine gewisse intellektuelle Hilf- und Wehrlosigkeit. Die Zeiten seien angesichts des Ukrainekrieges eben so, wird gesagt, und es wird zuweilen angefügt, ja, die Lohn-Preis-Spirale sei in Wirklichkeit eine Preis-Lohn-Spirale, aber eine Spirale sei sie trotzdem, und wenn jetzt erst die Löhne, danach aber gleich die Preise steigen würden, wäre ja auch nichts gewonnen für uns hier unten. Dagegen gibt es dann in mancher Debatte ein instinktiv richtiges „Ist mir egal, ich brauch‘ mehr Geld und meine Kinder brauchen’s auch!“, aber die theoretische Verunsicherung nagt an der kollektiven Kampfentschlossenheit.
In einem Sommer vor vielen Jahrzehnten – man schrieb das Jahr 1865 – fand in London eine bemerkenswerte Debatte um sehr ähnliche Fragen statt. In jener Zeit arbeitete Karl Marx mit kräftiger Unterstützung seiner Frau Jenny und seines Kumpels Friedrich Engels an seinem Hauptwerk, dem zwei Jahre später erschienenen „Kapital“. Er war also in Sachen ökonomischer Gesetze und ihrer Auswirkungen auf die damaligen gewerkschaftlichen Kämpfe voll im Thema. Im Zentralrat der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (IAA), die grob vereinfacht der Versuch war, die nationalen Kämpfe der damaligen Arbeiterbewegung international in den theoretischen und strategischen Grundfragen zu koordinieren, gab es im Nachgang zur ökonomischen Krise der 1850er Jahre und vor allem angesichts steigender Preise in Britannien und auf dem europäischen Kontinent heftige Debatten um die Frage, wie die in den Gewerkschaften zusammengeschlossenen Arbeiter denn darauf reagieren sollten. Weit verbreitet war auch innerhalb der fortschrittlichen Kräfte damals das mit dem Namen Ferdinand Lassalle verbundene sogenannte „eherne Lohngesetz“. Es besagt vereinfacht, dass sich aufgrund ökonomischer Gesetze im Kapitalismus völlig unabhängig von allen Lohnkämpfen das Lohnniveau immer auf das Existenzminimum einpendele. Lohnkämpfe der Gewerkschaften seien daher zwar ehrbare Versuche, die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter zu verbessern, aber letztlich zum Scheitern verurteilt – nur die Erringung einer parlamentarischen Mehrheit zur Überwindung des Kapitalismus könne für die Darbenden eine Lösung ihrer Existenznöte bringen.
Marx hielt dagegen. In einer zweiteiligen Vortragsreihe, die Jahre später anhand seiner Vortragsnotizen von seiner Tochter Eleanor (die aber alle nur „Tussy“ nannten) veröffentlicht wurde, wandte er sich entschieden und ökonomisch fundiert gegen diese Propaganda der Passivität und der Unterwerfung des Proletariats unter das Kapital. Ohne gewerkschaftlichen Kampf, schlussfolgerte er am Abend des zweiten Teils seines Vortrags, würde die Arbeiterklasse „degradiert werden zu einer unterschiedslosen Masse ruinierter armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft. Ich glaube nachgewiesen zu haben, dass ihre Kämpfe um den Lohnstandard von dem ganzen Lohnsystem unzertrennliche Begleiterscheinungen sind, dass in 99 Fällen von 100 ihre Anstrengungen, den Arbeitslohn zu heben, bloß Anstrengungen zur Behauptung des gegebnen Werts der Arbeit sind und dass die Notwendigkeit, mit dem Kapitalisten um ihren Preis zu markten, der Bedingung inhärent ist, sich selbst als Ware feilbieten zu müssen. Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.“
Sein Vortrag trägt den Titel „Lohn, Preis und Profit“ und umfasst rund 50 Druckseiten in den „Marx-Engels-Werken“ (MEW). Keine der Arbeiten der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus umreißt so prägnant und vor allem praxisorientiert die theoretischen Grundlagen der Lohnkämpfe im Kapitalismus wie diese 50 Seiten. Marx ging darin auf die vorher in diesem Kreis gehaltenen Ausführungen von John Weston ein, einem Arbeiter und Gründungsmitglied der IAA, der auch nach 12 Stunden Maloche für den Sozialismus agitierte. Auch er hing der Theorie an, die Lohnkämpfe der Gewerkschaften seien letztlich vergebliche Liebesmüh. Marx zollte dem wackeren Mann zu Beginn seines Vortrags seine persönliche Hochachtung, ging aber mit seinen theoretischen Ansichten schonungslos um. Kern des Weston-Vortrags war (als sei er heute gehalten), dass Lohnerhöhungen nur ein erhöhtes Preisniveau nach sich ziehen würden, namentlich bei Lebensmitteln.
Das, so Marx, sei falsch, weil in den Wert der Ware Arbeitskraft anders als bei anderen Waren eben auch die „Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden“ einfließe.
Lohnrate und Profitrate würden eine Einheit bilden – daher die Erbitterung, mit der das gesammelte Kapital seine Profitrate auf Kosten der Lohnrate auszuweiten trachte: „Sicher ist es der Wille des Kapitalisten, zu nehmen, was zu nehmen ist. Uns kommt es darauf an, nicht über seinen Willen zu fabeln, sondern seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken.“ Im weiteren Verlauf seines Vortrags wandte sich Marx vor allem gegen den „Trugschluss“, zu meinen, die „Warenpreise werden bestimmt oder geregelt durch den Arbeitslohn“.
Im Ergebnis seiner Ausführungen schlug Marx die Annahme eines Beschlusses in Form von drei Punkten vor:
- Eine allgemeine Steigerung der Lohnrate würde auf ein Fallen der allgemeinen Profitrate hinauslaufen, ohne jedoch, allgemein gesprochen, die Warenpreise zu beeinflussen.
- Die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion geht dahin, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken.
- Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, das heißt zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“
Wer sich – am besten mit Kolleginnen und Kollegen zusammen – die Mühe macht, an zwei Abenden (vielleicht in der Tradition der IAA schon mal am kommenden Dienstag ab 21.00 Uhr?) diesen 50-seitigen Text zu studieren, wird viel gewinnen für die innere Vorbereitung auf die Lohnrunden, die nach diesem August in den kommenden Monaten auf uns zukommen.
Die Marx-Engels-Stiftung auf dem UZ-Pressefest
Klassenanalyse als Kompass in aktuellen Auseinandersetzungen bietet die Marx-Engels-Stiftung mit ihrem Programm auf dem 21. UZ-Pressefest, das am 27./28. August in Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz stattfindet. Ein kurzer Blick ins Programm:
In die polit-ökonomischen Fragen des Kapitalismus und Sozialismus führt der marxistische Ökonom und Buchautor Holger Wendt anschaulich ein. Ganz praktisch wird das hier Gelernte angewandt in der Runde zur kubanischen Ökonomie von Marcel Kunzmann, aber auch in der Diskussionsrunde zu Chinas Neuer Seidenstraße des China-Spezialisten Uwe Behrens. Was es für Patienten wie Beschäftigte bedeutet, wenn das gesamte Gesundheitswesen wie derzeit in der BRD den Gesetzen des „Marktes“ unterworfen wird, zeigt der frühere DDR-Arzt Heinrich Niemann auf. Brisante internationale Konfliktfelder beleuchten der Osteuropakorrespondent der „jungen Welt“ Reinhard Lauterbach in seinem Vortrag über Polen und das Baltikum und den Ukrainekrieg sowie der türkische Exilant Hamza Yalcin, der die Rolle der türkischen Streitkräfte unter die Lupe nimmt. Kulturelle Fragen werden in den Runden zur kommunistischen Schriftstellerin Gisela Elsner von Kai Köhler und Eva Petermann sowie zur Dialektik von Menschenbild und Klassenkampf von den Mitgliedern der Linkspartei Naisan Raji und Diether Dehm verhandelt. Hermann Kopp und andere gehen auf die Geschichte der Marx-Engels-Stiftung, ihre aktuellen Vorhaben und Probleme ein.
Das Programm der Marx-Engels-Stiftung findet im Kino Babylon statt.
marx-engels-stiftung.de
Einmalzahlungen reichen nicht!
Bundeskanzler Olaf Scholz hat den Vorschlag gemacht, auf die steigenden Preise mit Einmalzahlungen der Arbeitgeber zu reagieren. Diese sollen dann steuer- und abgabenfrei gestellt werden, damit sie voll bei den Beschäftigten und ihren Familien ankommen.
Das hört sich erst mal gut an. Es ist aber der falsche Weg und letztlich zum Nachteil der Beschäftigten. Warum? Scholz will diesen Vorschlag in ein Treffen mit Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern einbringen, die „Konzertierte Aktion“. Dort soll über das Umgehen mit der Inflation geredet werden. Die Presse mutmaßte, dass im Gegenzug die Gewerkschaften auf Forderungen nach höheren Lohnzuwächsen verzichten sollen.
Doch das bedeutet, dass dann im nächsten Jahr die Reallohnverluste umso höher sind. Selbst wenn die Inflation im kommenden Jahr wieder geringer wird: der Anstieg der Preise in diesem Jahr bleibt ja erhalten, nur der weitere Anstieg würde langsamer. Die Einmalzahlung gäbe es aber im nächsten Jahr nicht mehr und sie würde auch bei den künftigen Lohnsteigerungen nicht beachtet.
Preissteigerungen können also nur durch dauerhafte Lohnsteigerungen ausgeglichen werden. Darum brauchen wir entsprechend hohe prozentuale Zuwächse oder Sockelbeträge, die auch in den folgenden Jahren weiterwirken. Das durchzusetzen braucht es starke Gewerkschaften und kampfbereite Beschäftigte.
Quelle: Wirtschaftspolitik aktuell, Ausgabe 12, Juli 22, Herausgegeben vom Bereich Wirtschaftspolitik beim ver.di-Bundesvorstand