Über: Grover Furr, Chruschtschows Lügen.

Log Chruschtschow?

Von Klaus Stein

Grover Furr, Chruschtschows Lügen.

Die Beweise, dass alle „Enthüllungen“ über Stalins (und Berias) „Verbrechen“ in Nikita Chruschtschows berüchtigter „Geheimrede“ auf dem 20. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1956 nachweislich falsch sind.

Verlag Das Neue Berlin, 2014

Ich habe das Buch von vorne bis hinten gelesen. Empfehlen kann ich es nicht.

Furr streitet die Massenrepressionen unter Stalin nicht ab. Chruschtschow stützte sich in seinem Bericht an den XX. Parteitag auf eine Parteikommission. Deren Zahlenangaben akzeptiert Furr (S. 52). Im Quellenteil seines Buches findet sich auf Seite 317 die entsprechende Tabelle. Festgenommen wurden 1 920 635 Menschen in den Jahren 1935 bis 1940. Danach sind überwiegend in den Jahren 1937 und 1938 insgesamt 688 503 Exekutionen erfolgt. Die anderen kamen wohl in die Lager. Furr mokiert sich über die Schlussfolgerung, dass viele Parteigrößen unschuldig waren, und schreibt: „Aber die in dem Bericht aufgeführten Beweise demonstrieren nicht ihre Unschuld. Die Kommission erklärte sie einfach für unschuldig.“ (S. 52)

Offenbar ist Furr die Fragwürdigkeit seiner Schuldvermutungen nicht klar. Seit den Hexenverfolgungen und spätestens der Cautio Criminalis des Friedrich Spee von 1631, wo das Prinzip „In dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten) vertieft wurde, gilt die Unschuldsvermutung als Grundprinzip eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Das ist nicht nur juristisch von Belang. Denn wie soll man Unschuld beweisen?

Die Vereinten Nationen haben die Unschuldsvermutung 1948 in Artikel 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte normiert. „Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist so lange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“

Furr verspricht unverdrossen, jeden einzelnen Fall der von Chruschtschow erwähnten gewaltsam unterdrückten Parteigrößen zu untersuchen, und entdeckt: „In keinem dieser Fälle wurde in den ‚Rehabilitations-Materialien‘, einschließlich des Pospelow-Kommissionsberichts, ausreichend Beweismaterial angeführt, ihre Unschuld zu belegen.“ (S. 55)

„… die Beweise, die uns heute vorliegen, demonstrieren die völlige Unzulänglichkeit der Schlussfolgerungen der Pospelow-Kommission, dass diese Männer unschuldig gewesen seien“ (S. 55)

„Der Pospelow-Bericht zitiert einiges mehr aus Eiches Brief, beinhaltet jedoch keinerlei Beweise für seine Schuld oder Unschuld.“ (S. 67/68)

„Das Rehabilitierungsmaterial von Rudenko vom 24. Dezember 1955 beweist nicht seine Unschuld.“ (S. 76)

„Zugleich kann eine Person nicht für unschuldig erklärt werden, wenn sie eine Beschuldigung lediglich beständig zurückweist.“ (S. 76)

„Es gibt keine Beweise für Rudsutaks Unschuld. …“ (S. 77)

Chruschtschow erklärte Kosarew für unschuldig, „ohne ernsthafte Untersuchung der Schuld oder Schuldlosigkeit des Kosarew.“ (S. 90)

Furr glaubt, sich als Historiker über die Unschuldsvermutung hinwegsetzen zu können. „Wenn aber die strafrechtliche Verurteilung eines Angeklagten aufgehoben und gegen ihn nicht neu verhandelt wurde, muss dieser als ‚unschuldig‘ angesehen werden. Der verstorbene Angeklagte ist folglich ‚unschuldig‘. Rehabilitiert! Für Historiker ist dies gänzlich unakzeptabel.“ (S. 179)

„Es ist durchaus möglich, dass keine einzige schwarze Person in den amerikanischen Südstaaten jemals bis in die sechziger Jahre einen ‚fairen Prozess‘ hatte. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder schwarze Angeklagte unschuldig gewesen wäre.“ (S. 180)

„Nicht ein einziger dieser Berichte weist die Unschuld des von Chruschtschow in seiner Rede Genannten nach.“ (S. 180/181)

„Die Tatsache der Folterung eines Angeklagten besagt nicht, dass er unschuldig ist.“ (S. 181)

„Indes ist die Tatsache, dass jemand geschlagen worden ist, kein Ausweis dafür, dass das abgegebene Geständnis wahr oder unwahr ist.“ (S. 214)

„Die Rehabilitierungsberichte beweisen nicht die Unschuld der ‚Rehabilitierten‘“ (S. 221)

Auf der anderen Seite ist für Grover Furr die Existenz vonVerschwörungen nicht zu bezweifeln. „Nach jetziger Beweislage existierte ein weitverbreitetes rechts-trotzkistisches Netzwerk von regierungsfeindlichen Verschwörungen, in das viele leitende Parteiführer, die beiden NKWD-Chefs Jagoda und Jeschow, hochrangige Militärführer und viele andere involviert waren.“ (S. 42) Diesem Netzwerk widmet der Autor ein ganzes Kapitel.

„Die Hypothese, dass Chruschtschow womöglich ein geheimes Mitglied in einer der zahlreichen ‚rechts-trotzkistischen Verschwörungen‘ war, wird verstärkt durch die Tatsache, dass er mit Sicherheit in eine Reihe anderer Verschwörungen verwickelt war, von denen wir wissen.“ (S. 242) Und selbstverständlich waren es auch Pospelow und die anderen Mitglieder seiner Kommission. (S. 243)

Nur einer war unschuldig: Stalin. Furr zitiert Autoren, deren Darstellung verdeutliche, „dass die zentrale Leitung unter Stalin über unverantwortliche Repressionen sehr besorgt war.“ (S. 95)

Domenico Losurdo indessen bescheinigt im Vorwort dem Autor „ein präzises, akribisches, geduldiges Stück Forschungsarbeit“. Er habe zweifelsfrei erwiesen, was der Titel des von ihm veröffentlichten Buches besagt: „Chruschtschow hat gelogen“.

Si tacuisses. …

Grover Furr, Chruschtschows Lügen.

Die Beweise, dass alle „Enthüllungen“ über Stalins (und Berias) „Verbrechen“ in Nikita Chruschtschows berüchtigter „Geheimrede“ auf dem 20. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1956 nachweislich falsch sind.

Verlag Das Neue Berlin, 2014

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"Log Chruschtschow?", UZ vom 17. Juli 2015



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