Ende Juni veröffentlichte der Bundesausschuss Friedensratschlag ein Positionspapier zur Einschätzung des Ukraine-Krieges. Den Autoren gehe es bei der Analyse der Ursachen des Krieges nicht um eine Rechtfertigung, „sondern darum, seine Hintergründe und seine Entstehung möglichst genau aufzuzeigen. Aus ihnen lassen sich realistische Ansätze für eine politische Lösung des Konfliktes ableiten.“ Damit gibt der Bundesausschuss der deutschen Friedensbewegung eine wichtige Orientierung in der durch die imperialistische Stimmungsmache aufgeladenen Situation. UZ dokumentiert Auszüge aus dem Papier in redaktioneller Bearbeitung. Das gesamte Papier kann abgerufen werden unter: kurzelinks.de/positionspapier
Krieg als Mittel der Politik lehnen wir grundsätzlich ab. Wir haben uns stets entschieden dafür eingesetzt, Krieg als Mittel der Politik zu verhindern, auch bei dem Konflikt zwischen NATO, Ukraine und Russland. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist daher ein Rückschlag für alle, die sich für Frieden engagiert haben – und gleichzeitig eine Herausforderung für die Friedensbewegung, ihre Bemühungen für zivile Lösungen zu intensivieren. Nicht zu viel Entspannungspolitik ist das Problem gewesen, sondern zu wenig.
Als Bürgerinnen und Bürger eines NATO-Staates richten wir unsere Kritik in erster Linie an die NATO-Staaten. Denn der Krieg hätte verhindert werden können und müssen. An eindringlichen Warnungen, auch von zahlreichen führenden westlichen Außenpolitikern und Experten, dass die Missachtung essenzieller Sicherheitsinteressen Russlands eine solche Reaktion provozieren könnte, hat es nicht gefehlt. Wir weisen zudem die Doppelmoral zurück, mit der ausgerechnet die Regierungen der USA und ihrer Verbündeten den russischen Einmarsch als Völkerrechtsbruch anprangern, sich als Richter aufspielen und härteste Sanktionen verhängen, nachdem sie selbst verheerende Angriffskriege geführt und Völkerrecht gebrochen haben.
Eskalationsspirale
Dieser Krieg in Europa ist wie alle anderen zuvor eine Katastrophe, vor allem für die direkt Betroffenen. Die Regierung der Russischen Föderation hat damit eine Zäsur in ihren Beziehungen zum Westen vollzogen. Statt sich weiter auf diplomatischem Wege um einen Abbau der Spannungen und um Sicherheitsvereinbarungen zu bemühen, verschärfte sie nun durch ihr militärisches Vorgehen selbst die Konfrontation. Die NATO-Staaten halten frontal dagegen und eskalieren sie durch ihre massive militärische und propagandistische Unterstützung Kiews und einen umfassenden Wirtschaftskrieg weiter.
Auf diese Weise handelt es sich nicht nur um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, sondern – wie Reaktionen der NATO-Staaten auf den Krieg klar erkennen lassen – um einen hybriden Krieg der NATO gegen Russland. Die Stellungnahmen ihrer führenden Politiker lassen auch keinen Zweifel am Ziel, den geopolitischen Rivalen entscheidend und dauerhaft zu schwächen, zu ruinieren, wie es etwa Außenministerin Annalena Baerbock ausdrückte.
Die USA und ihre Verbündeten würden daher den Wirtschaftskrieg vermutlich auch dann nicht beenden, wenn sich die russischen Streitkräfte aus den seit dem 24. Februar besetzten ukrainischen Gebieten zurückziehen würden, sondern gemäß US-Außenminister Antony Blinken und seiner britischen Kollegin Liz Truss erst, wenn garantiert sei, dass Russland zukünftig keine solche Offensive mehr unternehmen kann.
Geopolitische Zusammenhänge
In der Auseinandersetzung in und um die Ukraine überlagern sich zwei zentrale Konfliktfelder – zum einen das Konfliktpotenzial, das durch den chaotischen Zerfall der Sowjetunion entstand, wodurch territoriale und Minderheitenfragen ungelöst blieben, und zum anderen der Kampf der USA und ihrer Verbündeten um den Erhalt der Dominanz des Westens in der Welt.
Dieser Krieg wird nicht nur auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung geführt, sondern faktisch auf dem Rücken der ganzen Welt, insbesondere auf dem der ärmeren Länder und Bevölkerungsgruppen.
Er ist militärisch aktuell weitgehend noch auf das Territorium der Ukraine und auf konventionelle Waffen beschränkt, auf wirtschaftlicher Ebene tobt er jedoch unbegrenzt. Es ist zunehmend auch ein kultureller Medien- und Informationskrieg, der alle Aspekte unseres täglichen Lebens betrifft.
Atomare Bedrohung
Der russische Präsident begründete den Einmarsch ins Nachbarland auch mit der Bedrohung durch künftige ukrainische Atomwaffen. Dies ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Ukraine hat sich im Budapester Memorandum 1994 gemeinsam mit Weißrussland und Kasachstan verpflichtet, die auf seinem Territorium lagernden Atomwaffen an Russland abzugeben und in Zukunft keine anzuschaffen oder zu stationieren. Im Gegenzug erhielten sie von Russland, den USA und Britannien Sicherheitsgarantien.
2000 hat das ukrainische Parlament ein Gesetz verabschiedet und 2015 konkretisiert, das anderen Staaten zeitlich begrenzt die Stationierung von nuklearen Waffen unter gewissen Voraussetzungen erlaubt. Die Ukraine produziert zudem bereits in ihren Atomkraftwerken waffenfähiges Material. Allein im AKW Saporoschje sammelte sie laut Aussagen des Chefs der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO, Rafael Grossi, 40 Kilogramm Uran und 30 Kilogramm Plutonium an. Seit März 2021 weigert sich Kiew, diese nach Russland zur Wiederaufarbeitung auszuführen und verweigert der IAEO die Aufsicht darüber. Dadurch ist unklar, ob sich dieses nukleare Material noch dort befindet.
Präsident Wladimir Selenski hat schließlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2022 seine Forderung nach einem klaren Zeitrahmen für den NATO-Beitritt der Ukraine mit der Drohung der Kündigung des Budapester Memorandums verbunden.
Schritte zum Frieden
Allein mit Appellen an Moskau, seine Truppen zurückzuziehen, wird man ein Ende der Kämpfe nicht erreichen. Wer sie konträr zu jeglicher Konfliktlösungslogik zur Vorbedingung für Verhandlungen macht, will nicht verhandeln. Die Führung der Atommacht Russland hat die enormen Kosten des Einmarschs nicht in Kauf genommen, um ihre Erfolge in einem Konflikt, bei dem es ihrer Sicht nach um existenzielle Interessen geht, ohne substanzielle Zugeständnisse preiszugeben.
Zunächst muss über substanzielle Verhandlungsangebote ein dauerhafter Waffenstillstand erreicht werden, um Zeit für Verhandlungen zu schaffen.
Folgerichtig sehen die italienischen Vorschläge vom 21. Mai als erstes Vereinbarungen über lokale Kampfpausen vor, danach über einen dauerhaften Waffenstillstand und eine Entmilitarisierung der Frontlinie. Diesen soll dann eine internationale Konferenz über einen zukünftigen neutralen, durch Schutzgarantien abzusichernden Status der Ukraine folgen.
An einer Verpflichtung zur strikten Neutralität der Ukraine, wie sie zwischen 1991 und 2014 in der ukrainischen Verfassung verankert war, führt kein Weg vorbei. So bitter dies angesichts militärischer Gewalt auch für Kiew sein mag, eine neutrale Ukraine war schon immer im Interesse aller, die Frieden in Europa anstreben.
Selbst führende Vertreter des geopolitischen Establishments raten Kiew zudem, auch die Abspaltung der Krim zu akzeptieren. Da diese unstrittig dem Willen der Mehrheit ihrer Bewohnerinnen und Bewohner entspricht, könnte sie ohnehin nur mit Gewalt, um den Preis eines neuen Bürgerkrieges, revidiert werden.
Vermutlich erst im letzten Schritt könnten die Verhandlungen über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken und anderer mehrheitlich russischsprachiger Gebiete folgen und damit auch über den Rückzug russischer Truppen. Eine Lösung könnte eine sehr weitgehende Autonomie innerhalb der Ukraine sein, mit eigenen Sicherheitskräften und Russland als offizieller Schutzmacht. Waffenstillstand und Verhandlungsfortschritte müssten mit der Aufhebung westlicher Embargomaßnahmen einhergehen.
Wirtschaftsblockaden
Mit den Embargomaßnahmen von beispiellosem Umfang, die die NATO-Staaten und ihre engsten Verbündeten gegen Russland verhängten, wird internationales Recht weiter beschädigt. Umfassende Wirtschaftsblockaden treffen immer zuallererst die ärmeren Bevölkerungsschichten, nicht nur die in Russland, sondern in der ganzen Welt. Sie haben noch nie einen Krieg beendet, aber schon zig Millionen Menschen in vielen Ländern ins Elend gestürzt.
Vor allem im Nahen Osten sowie in großen Teilen Afrikas drohen demzufolge neue Hungersnöte, die nach UN-Angaben das Leben von Millionen Menschen gefährden. Auch in Europa sind es in erster Linie die sozial Benachteiligten, die unter den steigenden Kosten für Energie und Lebensmittel leiden. Während Rüstungskonzerne und westliche Lieferanten von fossiler Energie Milliardengeschäfte machen, werden die Kosten den unterprivilegierten Menschen aufgebürdet, die mit erheblichen Preissteigerungen für Lebensmittel und Energie fertig werden sollen.
Die Wirtschafts- und Finanzblockaden gegen Russland könnten für das westliche Europa zum Bumerang werden. Es zeigt sich, dass ein so mächtiges Land mit so großen Ressourcen kaum effektiv blockiert werden kann. Während Russland aufgrund der gestiegenen Preise für Öl und Gas trotz geringerer Exportmengen aktuell höhere Einnahmen als zuvor erzielt und die negativen Auswirkungen auf Währung und Wirtschaft bisher in Grenzen halten konnte, leidet die Wirtschaft der anderen europäischen Staaten immer stärker unter den Embargomaßnahmen.
Neue Blockbildung
Der russische Einmarsch brachte eine einheitliche Front des Westens gegen Russland zusammen, wie sie Washington seit langem anstrebt. Auch offiziell neutrale europäische Länder, wie die Schweiz und Österreich, beteiligen sich an den Wirtschaftsblockaden. Die Regierungen Finnlands und Schwedens nutzen die Hysterie, um auch formal Mitglied der NATO zu werden.
Die außenpolitische Isolierung Russlands ist jedoch bisher gescheitert. Stattdessen kristallisiert sich eine neue Blockbildung heraus. Die vom Westen zum Feind erklärten Länder wie Russland, China, Iran, Kuba und Venezuela rücken enger zusammen, und parallel dazu entsteht ein weiterer bedeutender Block von Staaten – von Indien über die Golfstaaten und Südafrika bis Brasilien und Mexiko –, die dem Westen die Gefolgschaft verweigern und ihre Zusammenarbeit mit Russland fortführen. Sie kritisieren mit Verweis auf die US- und NATO-Kriege die westliche Doppelmoral, beteiligen sich nicht an den Wirtschaftsblockaden, prangern den Missbrauch des internationalen Finanzsystems an und wollen nun gemeinsam mit China und Russland die Abhängigkeit vom US-Dollar verringern.
Deutsche Großmachtspiele
Das von der Ampelkoalition eingeleitete gigantische Aufrüstungsprogramm und der immer lauter werdende Ruf nach Atomwaffen für die EU gießen weiter Öl ins Feuer. Mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und der Erhöhung der Rüstungsausgaben auf durchschnittlich 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (pro Jahr durchschnittlich etwa 80 Milliarden Euro) wollen die Herrschenden Deutschland als Militärmacht gewaltig ausbauen und die Bundeswehr für neue Kriege ertüchtigen.
Mit medialem Trommelfeuer wird jetzt der Krieg in der Ukraine genutzt, um jede Opposition gegen Aufrüstung und Krieg zum Schweigen zu bringen. Man ist erinnert an den Beginn des Ersten Weltkriegs oder die heißesten Phasen des Kalten Krieges: Bedingungslose Zustimmung wird zur ersten Bürgerpflicht. Das politische Klima wird vergiftet und nach rechts verschoben.
Die Werbung für Hochrüstung und Kriegsbeteiligung ist hochgradig widersprüchlich. So soll die Bereitstellung alter NATO-Panzer die ukrainischen Streitkräfte befähigen, die russische Armee zu besiegen. Andererseits soll die russische Armee eine derart gewaltige Bedrohung für die NATO-Staaten darstellen, dass diese gezwungen sind, ihre Rüstungsausgaben vom 18-Fachen auf das womöglich 25-Fache der russischen zu steigern.
Die Propaganda der Ampelregierung erweckt den Eindruck, dass der 100-Milliarden-Sonderfonds für die Aufrüstung der Bundeswehr und die Steigerung des deutschen Militäretats auf über 2 Prozent der Wirtschaftsleistung eine Hilfe für die Ukraine darstellen.
Dieser Täuschung und der damit verbundenen Hoch- und Atomrüstung stellt die Friedensbewegung ihren Widerstand entgegen. Atombomber F35 für Nuklearschläge, Drohnenbewaffnung, Künstliche Intelligenz für den Luftkrieg und weitere Hightech-Rüstungsprojekte untergraben die Aussicht auf eine soziale, friedliche und ökologische Zukunft. Die Friedensbewegung stellt sich ihrer Verantwortung für die Zukunft und sagt zur Eskalation „Nein“, da es ohne eine Friedensperspektive keine Zukunft gibt.
Es ist Zeit für eine radikale Kehrtwende
Aufrüstung und Kriegspolitik stehen im Gegensatz zur solidarischen Kultivierung der Gesellschaft. Gegen 100 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr und die weitere Erhöhung der Rüstungsausgaben auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts engagieren wir uns verstärkt für eine neue Entspannungspolitik und massive öffentliche Investitionen in eine humane Zukunft – jetzt erst recht.