1966/67 reiste Erika Runge nach Bottrop, einer kleinen Stadt im Westen des Ruhrgebiets, um Material für einen Spielfilm zu sammeln. Zu dieser Zeit war Runge eine der ersten Regisseurinnen und Drehbuchautorinnen, sie plante, die Bewohner über die Massenentlassungen und Zechenstilllegungen in ihrer Region zu befragen. Später erinnert sich Runge: „Darüber wollte ich einen Film machen, traute mir aber nicht zu, die Handlung allein auszudenken. Ich war also darauf angewiesen, dass man mir etwas erzählt, und ging mit dem Tonbandgerät auf die Reise.“ Die Schließung der Zeche Möller/Rheinbaben in Bottrop war geplant und Runge erwartete ein Aufbegehren der betroffenen Bevölkerung. Sie stellte sich die Frage, ob bei den Menschen „ein neues Bewusstsein ihrer Lage entsteht und ob dieses Bewusstsein sie dazu bringt, aktiv zu werden und ihre Lage zu verändern“.
Runge interessierte, was die Bewohner aus Bottrop denken und fühlen. Sie bekam Kontakt zum ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden und illegalen (wir schreiben das Jahr 1967) Kommunisten Clemens Kraienhorst und durch diesen zu vielen anderen Bottropern. Sie hat viele Interviews geführt und sich viele Lebensgeschichten erzählen lassen, dann einige ausgewählt und veröffentlicht. Aus der Vielzahl der Interviews hat Erika Runge repräsentative ausgewählt, die Interviews gekürzt, bearbeitet und neu arrangiert: Zunächst hat sie das, was ihr spontan und assoziativ mitgeteilt worden war, wortgetreu abgeschrieben und die Erzählungen dramaturgisch geordnet und gerafft. Das entsprach ihrer Arbeitsweise bei der Montage von Dokumentarfilmen, zu der die Aufnahmen zuerst nach Komplexen zerlegt und dann in einer Auswahl neu zusammengesetzt werden. Eine Wiedergabe der Zwischenfragen, die gelegentlich vermisst worden ist, wäre bei dieser Montage-Methode nicht angebracht.
Wenn sich der Erzähler zu bestimmten Aspekten mehr als einmal äußert, wäre es unsinnig, die einzelnen Fragen in dem neu geordneten Text stehen zu lassen. Zum einen wollte die Autorin Redundanz vermeiden, zum anderen gemäß ihrer eigenen Dramaturgie und Methode die Texte gestalten.
Die erste Protokollsammlung der damals noch unbekannten Autorin wurde zu einem Erfolg. Die „Bottroper Protokolle“ zählen zu jenen Werken, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort entstanden. Der erste Protokollband von Erika Runge wurde zum Klassiker der Dokumentarliteratur. In den folgenden Jahren kam eine Menge dokumentarische Werken ähnlicher Art auf den literarischen Markt.
Die Bottroper Protokolle lösten eine Flut positiver Reaktionen aus. Reaktionen, die vor allem die gesellschaftliche Relevanz und die sozialkritische Dimension dieser Literatur hervorheben. Vernachlässigte Themen wie die Situation benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen, Leben und soziale Lage der Arbeiterklasse wurden wieder für die literarische Bearbeitung anerkannt. Ausschlaggebend ist der sozialkritische Inhalt und nicht der ästhetische Wert. Kritiker vom „Marxistischen Orden von der strengen Observanz“ bemängelten das „Weglassen der Interviewerfragen“, wodurch verdeckt wird, dass „eine Reporterin […] mit den Leuten redete und damit auch Form und Inhalt des Gesagten mitbestimmte“. Es entsteht der Eindruck als „plaudere jemand unveranlasst“. Damit wird die „Realität des Produzierens“ verborgen, der „Schein in sich abgeschlossener Wirklichkeit“ erzeugt, und dem Leser „keine Hilfe über den Verwendungszweck“ gegeben. Da Erika Runge die Interviews mit den von der Zechenstilllegung betroffenen Menschen vor allem in der Reproduktionssphäre, in Kneipen und Wohnküchen führte, bleiben die Arbeiter in den „Bottroper Protokollen“ in ihrer zentralen Funktion, der von in der Produktionssphäre Ausgebeuteten, fast gänzlich unbekannt. Der Produktionsbereich wird bloß „als Ort der Schikane“ersichtlich. In den Bottroper Protokollen wird „Klasse als eine Art deftige Vokabel, nicht aber als Begriff“ eingeführt.
Solche Maßstäbe wurden erfreulicherweise nicht von allen an den Tag gelegt, und die mehr als interessierte Aufnahme des Bandes in Bottrop selbst, aber auch in anderen, von ähnlichen Verwerfungen betroffenen Städten geben Zeugnis über die Relevanz des Buches.
Die DKP Bottrop hat Erika Runge zu ihrem diesjährigen „Marktfest“ eingeladen, sie wird am 1. Juni in die Kult(ur)kneipe Passmanns in der Kirchhellener Straße 57 ab 19 Uhr über die damalige Arbeit und ihre Erfahrungen sprechen und diskutieren.