Dauerhafte Stationierung deutscher Soldaten im Baltikum bricht Verträge und erhöht die Kriegsgefahr. Von Lühr Henken

Litauen-Brigade – überflüssig und gefährlich

Lühr Henken

Zielstrebig baut Deutschland seine militärische Präsenz in Litauen mit Kampfverbänden aus. Nach Stationierungen in den Jahren 1914, 1938 und 1941, die bekanntlich in Niederlagen endeten, haben 2017 erneut deutsche Militärstiefel litauischen Boden betreten. Die Bundeswehr führt das Multinationale Bataillon Litauen zunächst mit zunächst 450 Soldaten. Seitdem wurden die Soldaten alle sechs Monate ausgetauscht, also bisher 13 Mal. Damit respektierten die Regierungen noch die Zurückhaltungsverpflichtungen aus der NATO-Russland-Grundakte von 1997 und aus der KSE-Schlussakte (Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa) von 1999. Darin hatten sich die Vertragsseiten verpflichtet, in den neuen NATO-Staaten keine zusätzlichen „substanziellen Kampftruppen“ ständig zu stationieren. Was unter „substanziell“ zu verstehen ist, wurde nicht vertraglich geregelt. Oberst a. D. Wolfgang Richter, der damals die deutsche Seite vertrat, beschreibt, dass sich die beiden Seiten bei informellen Gesprächen in der Gemeinsamen Beratungsgruppe der Größenordnung einer Brigade als Obergrenze angenähert hatten. (Wolfgang Richter, „Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa“, SWP-Studie, Juli 2019, Seite 39)

Hauptausrüstung der deutschen Kampftruppe sind Kampfpanzer Leopard 2, Panzerhaubitzen 2000, Schützenpanzer Marder und Gepanzerte Transport-Kraftfahrzeuge GTK Boxer. Schweres Kampfgerät also. Kanzler Olaf Scholz’ Ankündigung im Juni 2022, vier Monate nach Beginn des Ukraine-Krieges, künftig sogar eine deutsche Kampfbrigade nach Litauen zu entsenden, schafft eine neue Qualität. Im Dezember 2023 vereinbarten Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und sein litauischer Amtskollege Arvydas Anušauskas die dauerhafte Stationierung einer deutschen Kampfbrigade ab 2025, deren Aufbau 2027 abgeschlossen sein soll. Die deutsche Brigade soll 4.800 Soldatinnen und Soldaten sowie 200 ziviles Personal umfassen – eine Steigerung auf mindestens das Zehnfache von heute.

Vertragsbruch mit Ansage

Mit dem Beschluss der Bundesregierung, die deutsche Militärpräsenz in Litauen auf Brigadestärke zu erhöhen, kratzt sie an der selbstgesteckten Obergrenze; mit dem Beschluss einer dauerhaften Stationierung bricht sie jedoch in Wort und Tat die Zurückhaltungserklärungen der NATO-Russland-Grundakte, der Istanbuler Erklärung und der KSZE-Schlussakte. Das ist der deutsche Sargnagel für dieses Vertragswerk, das einst einen Raum gemeinsamer und gleicher Sicherheit ohne Trennlinien schaffen wollte. Kein Staat und kein Bündnis sollte eine Vorrangstellung bei der Gestaltung der Sicherheit Europas oder privilegierte Einflusszonen beanspruchen oder die eigene Sicherheit zu Lasten von Partnern erhöhen. Vielmehr sollten die Staaten die Sicherheitskooperation stärken und gegenseitig ihre Sicherheitsinteressen berücksichtigen.

Die Stationierung der Litauen-Brigade unmittelbar an der Grenze zum östlichen Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit; Mitglieder: Belarus, Kasachstan, Kirgisien, Russland und Tadschikistan) stellt für Deutschland und für die Bundeswehr einen Präzedenzfall dar, der grundsätzlicher Erörterungen bedarf. Im Selbstverständnis der Bundesregierung ist die Litauen-Brigade Teil des New Force Model der NATO, das den Ausbau der schnellen Einsatzfähigkeit von 40.000 NATO-Soldaten im Jahr 2022 auf bis zu 800.000 in der Endausbaustufe 2029 festlegt. Die Brigade soll „kaltstartfähig“ sein und als sogenanntes Leuchtturm-Projekt den Maßstab für die „Kriegstüchtigkeit“ der Bundeswehr bilden. Es geht also um sehr große Aufrüstungsvorhaben, für die die Litauen-Brigade einen ersten Meilenstein darstellen soll. Dies wird in der veröffentlichten Debatte als alternativlos dargestellt.

Bundeswehr und NATO sprechen von Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung gegenüber Russland. Es gelte, angebliche „Fähigkeitslücken“ zu schließen, die insbesondere dann schmerzlich zutage treten würden, sobald Russland nach dem Ende des Ukraine-Krieges die Wiederherstellung seiner Streitkräfte in einem Zeitraum von fünf bis acht Jahren abgeschlossen habe, um ab 2029 als kriegserprobte Streitmacht NATO-Staaten direkt angreifen zu können. Das behauptete Generalinspekteur Carsten Breuer in einem Interview mit der FAZ am 5. November 2024.

Die Lüge von der „Fähigkeitslücke“

Außer Acht gelassen werden hier einschlägige Kräfteverhältnisse im konventionellen Bereich zwischen Russland und der NATO, wie sie in den Jahrbüchern The Military Balance dargelegt sind. Greenpeace hat im November 2024 auf dieser Grundlage eine Studie verfasst, die für Anfang letzten Jahres eine klare Überlegenheit der NATO aufzeigt. Sie beträgt bei der Truppenstärke das Dreifache, bei einsatzbereiten schweren Waffen des Heeres und der Luftwaffe in den meisten Bereichen das Vierfache im Vergleich zu Russland. Bei der Marine ist die NATO drei- beziehungsweise achtmal stärker als Russland. Die Zählung umfasst lediglich Einheiten, sie berücksichtigt nicht die meist qualitative Überlegenheit der NATO-Waffen. Unter Anwendung der militärischen Faustregel, wonach der Angreifer gegenüber dem Verteidiger im offenen Gelände das Dreifache an Soldaten und Kriegsmaterial aufbringen muss, um zu siegen, zeigt dieser Kräftevergleich eine sehr deutliche Überlegenheit der NATO gegenüber Russland. Man spricht auch von strategischer Überlegenheit. Russland versucht, dies durch Nuklearwaffen zu kompensieren.

NoNato seite 12 13 - Litauen-Brigade – überflüssig und gefährlich - Bundeswehreinsatz, Friedenskoordination Berlin, Initiative Nie wieder Krieg - Die Waffen nieder, Litauen, NATO-Russland-Grundakte, Ukraine-Krieg - Hintergrund

Selbst wenn wir die NATO ohne die USA und Kanada denken, weisen allein die europäischen NATO-Staaten gegenüber Russland eine große Überlegenheit auf: bei Soldaten gut zwei Millionen zu zurzeit 1,33 Millionen russischen, bei Kampfpanzern, gepanzerten Kampffahrzeugen und Artillerie etwa das Dreifache, bei Kampfhelikoptern das 1,2-Fache, bei Kampfflugzeugen etwa das Doppelte, bei großen Kriegsschiffen das Vierfache und bei U-Booten das 1,4-Fache. Würde Russland den Entschluss fassen, die europäischen NATO-Staaten anzugreifen, stünde es auf verlorenem Posten, selbst dann, wenn die USA nicht eingreifen würden.

Welche Kräfteverhältnisse zwischen den Kontrahenten herrschen müssten, um eine Seite zu einer Militärinvasion zu befähigen, offenbart eine Analyse, die der Generalstabsoffizier der Bundeswehr Dr. Sigurd Boysen 1987 im Hinblick auf konventionelle Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen zwischen NATO und Warschauer Pakt anfertigte. Boysen gab die Position der High-Level Task Force wieder, die die NATO-Position für die Verhandlungen mit dem Warschauer Pakt formulierte. Demnach „besitzt der Warschauer Pakt (…) die Fähigkeit zur Führung eines konventionellen strategischen Überraschungsangriffs zum Zweck der Inbesitznahme Europas“. Warum? „Die Invasionsfähigkeit des Warschauer Paktes resultiert aus einer Summe von Vorteilen gegenüber der NATO in Europa. Das materielle Übergewicht bei kampfentscheidendem Großgerät besteht sowohl regional als auch in Gesamteuropa und stellt sich wie folgt dar: Der Warschauer Pakt verfügt bei Kampfpanzern, anderen gepanzerten Fahrzeugen, Artilleriegeschützen und Kampfhubschraubern über eine Überlegenheit von 3 zu 1, bei Kampfflugzeugen von 2 zu 1 und bei Personal von 1,4 zu 1. Diese Zahlen enthalten nicht die sowjetischen Kräfte östlich des Urals, aber auch nicht die amerikanischen außerhalb Europas. Sie erfassen alle französischen und spanischen Kräfte wie auch die türkischen im asiatischen Teil der Türkei.“

Panikmache vor russischem Angriff

Angewandt auf die heutige Lage – wenn man den Annahmen von Generalinspekteur Breuer folgen wollte – müsste Russland binnen der nächsten vier bis sieben Jahre folgende Aufrüstungsanstrengungen unternehmen, um die dem Warschauer Vertrag vor fast 40 Jahren unterstellte Invasionsfähigkeit zu erlangen, mit dem Ziel, Europa in Besitz zu nehmen. Bei der folgenden hypothetischen Berechnung werden die Potenziale der USA außerhalb Europas auf Seiten der NATO noch nicht einmal berücksichtigt. Demnach müsste Russland die Zahl seiner Soldaten mehr als verdoppeln, den Kampfpanzerbestand verneunfachen, seinen Bestand an gepanzerten Kampffahrzeugen und Artilleriesystemen jeweils verachtfachen, den der Kampfhelikopter mehr als verdreifachen und den der Kampfflugzeuge vervierfachen. Ein solches Szenario ist völlig unrealistisch, allein schon deshalb, weil Russland höchstens über ein Zehntel der Wirtschaftskraft der NATO-Staaten verfügt.

Das bedeutet, dass die Ängste vor einem russischen Angriff auf NATO-Gebiet unbegründet sind. Folglich ist die Aufrüstung von NATO und Bundeswehr unsinnig und damit auch der Aufbau einer deutschen Brigade in Litauen. Der Verzicht auf die Litauen-Brigade würde geschätzt 7 Milliarden Euro für Rüstungsgüter und jährlich eine Milliarde für den Unterhalt einsparen. („Spiegel online“, 11. August 2024)

NATO ist reale Bedrohung

Anders herum: Für Russland stellt sich die NATO-Überlegenheit als bedrohlich dar. Dies wird durch die Litauen-Brigade noch verstärkt. Die insgesamt fast 100 Kampfpanzer Leopard 2 (je zur Hälfte litauisch und deutsch) nahe der weißrussischen Grenze können sowohl gegen Belarus als auch gegen Russlands Exklave Kaliningrad eingesetzt werden. Darüber hinausgehende NATO-Maßnahmen müssen die russischen Befürchtungen noch verstärken: Die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO, der jeweils Abkommen über den Truppenaufenthalt der USA in diesen Ländern folgten; die Präsenz ausländischer NATO-Verbände im Baltikum; der Aufbau einer polnischen Infanteriedivision mit vier Brigaden an der litauisch-weißrussischen Grenze; die permanente Präsenz von US-Truppen in Polen und die Stationierung US-amerikanischer Enthauptungsschlagwaffen in Deutschland ab 2026.

Russland hat darauf militärisch reagiert, taktische Atombomber nach Belarus verlegt und angedroht, dort auch neue Hyperschallraketen Oreschnik zu stationieren. Die Oblast Kaliningrad wird weiter militärisch aufgerüstet. Das heißt, die Präsenz deutscher und anderer NATO-Truppen mit schwerem Gerät entlang der NATO-Ostgrenze führt nicht zur Entspannung, sondern im Gegenteil, sie erhöht die Spannungen und versetzt die Aufrüstungsspirale in immer neue Umdrehungen. Wenn das nicht gestoppt wird, droht in Europa die Katastrophe. Noch ist es nicht zu spät, sie abzuwenden: Der Westen muss den Pfad der Kriegslogik verlassen und den Weg der Friedenslogik einschlagen. Konkret bedeutet das: Er muss auf erprobte Verfahren des Kalten Krieges zurückkommen. Das heißt: vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Rüstungskontrolle und Abrüstung inklusive diverser Verifikationsverfahren.

Anknüpfungspunkte für eine Lösung finden sich in der eingangs erwähnten SWP-Studie von Oberst a. D. Wolfgang Richter aus dem Jahr 2019. Darin bricht Richter eine Lanze für das im adaptierten KSE-Vertrag vorgesehene subregionale Stabilitätsregime. Dieser A-KSE-Vertrag ist leider nicht in Kraft. Dabei geht es um Truppenbegrenzungen in festzulegenden Gebieten beiderseits der Grenze zwischen NATO und OVKS. Auch der frühere Generalinspekteur Harald Kujat plädierte zuletzt Anfang 2024 in „Zeitgeschehen im Fokus“ aus der Schweiz (Ausgabe vom 14. Februar, zgif.ch) für einen aktualisierten KSE-Vertrag über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte mit neuen Flankenregelungen, die er insbesondere auf die baltischen Staaten anwenden möchte.

Unser Autor ist Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag. Er arbeitet mit im Personenbündnis „Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder“ und in der Friedenskoordination Berlin. Am 16. Dezember 2024 nahm er auf Einladung der BSW-Gruppe im Bundestag als Sachverständiger an der öffentlichen Anhörung des Verteidigungsausschusses teil. Die Anhörung kann hier nachgehört werden.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Litauen-Brigade – überflüssig und gefährlich", UZ vom 14. Februar 2025



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit