Vor 240 Jahren starb der französische Philosoph und Aufklärer Denis Diderot

Linker Kopf der Aufklärung

Ohne Philosophie sind wir wehrlos. Dass Denis Diderot sich der Philosophie bediente, um für Frankreich eine bessere Politik zu erreichen, ist durch seine Schriften belegt – ein Nachweis, dass das so schon in seinem frühen Werk angelegt war, lässt sich unter Zuhilfenahme des Materialismus erbringen, der von der Entwicklungsfähigkeit des Menschen ausgeht. Während die meisten Menschen idealistischen Ideen anhängen, irgendwann auf einer bestimmten Stufe verharren und bestenfalls noch wissenschaftliche Erkenntnisse mehren, entwickelte Diderot dagegen mit der Veränderung seiner Haltung zum Glauben – die zunächst noch von der Idee einer göttlichen Ordnung (Theismus) bestimmt war, dann von der Akzeptanz der Existenz eines Gottes, dem er aber Einfluss auf die menschlichen Geschicke absprach (Deismus), und schließlich von der Negation einer göttlichen Existenz (Atheismus) – auch seine politischen Auffassungen. Der Atheismus brachte ihm die Gegnerschaft der katholischen Kirche ein und die antifeudale Haltung die des Adels. Beides führte dazu, dass seine Hauptwerke erst nach seinem Tod oder unter Pseudonym erschienen.

Gegner von Adel und Kirche

Diderot wurde am 5. Oktober 1713 im ostfranzösischen Langres als ältestes von sechs Geschwistern geboren. Mit 15 ging er zum Studium der Theologie und der Geisteswissenschaften nach Paris, bildete sich umfassend weiter, schrieb und übersetzte für den Lebensunterhalt, las zu seiner Weiterbildung und genoss ansonsten das Leben – seine Zeitgenossen beschrieben ihn als fröhlich, begeisterungsfähig, seine charakterlichen Feinheiten immer hinterfragend; als selbstironisch, freisinnig, antiautoritär und doch klar in den Haltungen, wie sie sich neben seiner Kirchen- und Adelskritik unter anderem auch in seiner Argumentation gegen die Sklaverei ausdrückten. Er gehörte zu den Sensualisten, also den Vertretern der Idee, dass allem unsere Sinneseindrücke zugrunde liegen und nicht etwa die Vorstellung davon – worin sich die seit der Antike fortdauernde Auseinandersetzung von Materialismus und Idealismus spiegelt. Diderot war 1747 gemeinsam mit Jean-Baptiste le Rond d’Alembert Herausgeber der ersten französischen Enzyklopädie – ein epochales Lexikon, das das damals verfügbare Wissen zusammenbrachte. Zwischen 1751 und 1780 erschienen (immer wieder unterbrochen durch Publikationsverbote) in 35 Bänden etwa 70.000 Artikel über Wissenschaft, Kunst und Handwerk. Daran waren 142 Enzyklopädisten beteiligt; von Diderot allein stammen mindestens 3.000 Texte. Diderot war aufklärerischer Philosoph und zudem Dramatiker, Schriftsteller und Kunsttheoretiker. Er starb am 31. Juli 1784 in Paris.

Eingreifende Philosophie

Diderots Lebenszeit im 18. Jahrhundert fiel in die europäische Aufklärung, der es um rationales Denken, Toleranz, wissenschaftliches Arbeiten, Abschaffung der Stände, Gleichheit und Vorurteilsfreiheit ging und deren französischer Ableger deren radikalste Auslegung bereithielt. Das 17. Jahrhundert hatte England eine Revolution und eine Staatsverfassung gebracht, aber nicht die Abschaffung der Monarchie. Die deutsche Aufklärung kam mit deren Hauptvertreter Immanuel Kant (1724 bis 1804), aber ihre Revolution blieb im 19. Jahrhundert inmitten der Notwendigkeit, sich überhaupt zu einer Nation zusammenzufinden, schon in den Ansätzen stecken. Das Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber war vom am Ende erfolgreichen Kampf gegen Klerus und Monarchie geprägt – es ging gegen das „Ancien Régime“, das sich mit allen Mitteln gegen seinen Untergang wehrte.

Kein Wunder, dass Diderot wegen seiner beiden berühmten, schon materialistisch inspirierten Werke „Philosophische Gedanken“ (1746) und „Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden“ (1749) in der Festung von Vincennes inhaftiert wurde. Um die Arbeit an der Enzyklopädie nicht zu gefährden, gelobte er Besserung und kam nach dreieinhalb Monaten vorzeitig frei. Da es noch keine Gegenaufklärung gab, war im politischen Bereich die Zensur das eigentliche Problem der Aufklärer, die oft Wege fanden, ihre Ideen auf originelle Weise zu verbreiten. Wie immer in der Geschichte war auch im 18. Jahrhundert der herrschende Block nicht monolithisch, weshalb sich die Aufklärung zuweilen auch bestimmter Angehöriger des Adels bedienen konnte, die sich subjektiv als aufgeklärt verstanden. Das radikale Gedankengut der Philosophen fand Anklang auch in dem Maße, wie etwa der Königin Marie-Antoinette nachgesagte Vorschlag, doch Hefestollen zu essen, wenn kein Brot da sei, im Volk als Provokation empfunden wurde.

Aktuell fühlt man sich stark an solchen Unsinn erinnert, wobei der Widerstand gegen diverse Ampeleien sich nicht in Richtung der Überwindung der Verhältnisse wendet, sondern nach rechts, was am Ende zu deren Vertiefung führen dürfte. Es fehlt heute eben an eingreifender Philosophie, vielleicht fehlt es daher auch an Revolutionären. Ohne Philosophie sind wir eben wehrlos.

Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff

Die Philosophen der Zeit waren also die intellektuellen Treiber der Aufstände, die 1789 zum Sturm auf die Bastille und damit zur Republik führten. Vielleicht wäre Platon angesichts der brutalen Unterdrückung des französischen Volkes nicht auf seinen Vorschlag gekommen, „die Philosophen sollen Könige und die Könige Philosophen sein“. Diderots Sache war das Beschwichtigen jedenfalls nicht – er, der den Sieg nicht mehr miterlebte, hatte mit Feststellungen wie der, dass die Menschen ihre Freiheit erst erlangen würden, wenn aus den Gedärmen der Pfaffen der Strick zum Erwürgen der Könige gedreht sei, zu einer Radikalisierung durchaus beigetragen.

Es ist die Auseinandersetzung mit der Freiheit, an der sich die Entwicklung Diderots vom gläubigen Idealisten hin zum Materialisten gut nachvollziehen lässt. Nutzte er mit solcher Verbalradikalität den Begriff der Freiheit noch zur Abrechnung mit denen, die für ihn die Unfreiheit symbolisierten, ging er in seinem ab 1765 geschriebenen und in Frankreich erst 1796 veröffentlichten, dialogisch gehaltenen Roman „Jacques der Fatalist und sein Herr“ die Freiheit grundsätzlich an. Es sei so, dass es gar keine freien Wesen gebe, denn „wir sind Produkte der Ordnung, des menschlichen Organismus, der Erziehung und der gesellschaftlichen Geschehnisse“. Man werde „nur getäuscht durch die ungeheure Mannigfaltigkeit unserer Handlungen, zusammen mit unserer seit der Geburt angenommenen Gewohnheit, das Freiwillige mit der Freiheit zu verwechseln“.

Die heute in den bürgerlichen Gesellschaften des „Westens“ herrschende ausschließende Idee von Freiheit – die sich vor allem in der Ablehnung anderer Gesellschaftsformen ausdrückt sowie im Unverständnis anderer kultureller Zusammenhänge und in der Ignoranz der Tatsache, dass die Freiheit der einen zwangsläufig immer auch die Unfreiheit der anderen mit sich bringt – meint eben mehr die Freiheit des Warenverkehrs als die der Individuen, deren Zwang zum Verkauf ihrer Arbeitskraft schon die erste Unfreiheit ist. Und so ertappt man sich dabei, sich eine verpflichtende Lektüre von „Jacques der Fatalist“ im Schulunterricht zu wünschen – tatsächlich nicht freiwillig, sondern verpflichtend, um anhand dieses Paradoxons die Freiheit begrifflich überhaupt erst verständlich werden zu lassen. Diderot hätte an dieser dialektischen Kenntlichmachung durch Verdrehen wohl seine Freude gehabt.

Diderot war der „linke“, der materialistische Kopf der französischen Aufklärung. Darin liegt vielleicht der Grund, dass er in der DDR weit bekannter war (und in Schulen behandelt wurde) als in der BRD, wo man sich eher mit Diderots aufklärerischen Mitstreitern Voltaire (1694 bis 1778) und Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778) und deren Ideen beschäftigte. Mit dem Dramatiker Voltaire, weil er zwar die Kirche angriff und Gleichheit vor dem Gesetz verlangte, aber im Gegensatz zu Diderot als Deist gläubig blieb und ein Bürgertum mit Privilegien gegenüber dem Volk – also soziale Unterschiede – für vorteilhaft hielt. Und mit dem Schriftsteller und Pädagogen Rousseau, weil dessen idealistisches „Zurück zur Natur!“ schon zu seiner Zeit verspätet war und als naiver Appell die herrschende Klasse bis heute nichts kostet.

Philosophisches Nachwirken

Der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer nannte Diderot in seiner „Geschichte der französischen Literatur“ 1954 einen „Wahrheitssucher, unersättlichen Studenten und Geistesarbeiter sondergleichen“ und erwähnte Schiller, Goethe und Lessing als die deutschen Klassiker, die Diderots Größe neben Rousseau oder Voltaire erkannten – und die ihn klarer als die Literaten Frankreichs als das Genie sahen, das er war. Lessing widmete sich dem Dramatiker Diderot, dem er in „Das Theater des Herrn Diderot“ (1760) bescheinigte, dass „sich nach Aristoteles kein philosophischerer Geist mit dem Theater abgegeben hat als er“. Schiller übertrug 1785 einen Teil von „Jacques der Fatalist“ ins Deutsche; da die originale französische Fassung lange verschollen war, erschien in Frankreich 1796 kurioserweise zunächst eine Rückübersetzung von Schillers Übertragung ins Deutsche. Goethe wiederum übersetzte 1805 „Rameaus Neffe“ (geschrieben zwischen 1762 und 1774), das meist als Diderots sprachliches Meisterwerk genannt wird und wie „Jacques der Fatalist“ in Dialogform gehalten ist. Friedrich Engels rühmte Diderot als jemanden, der sein ganzes Leben der Begeisterung für Freiheit und Recht gewidmet habe; Diderot war Karl Marx‘ Lieblingsschriftsteller und Georg Wilhelm Friedrich Hegel bezog sich 1807 innerhalb seiner Untersuchungen zur Dialektik anhand der Frage von Knechtschaft und Herrschaft auf „Rameaus Neffe“ und besonders auf „Jacques der Fatalist“. In der Tat fungieren Jacques und sein Herr im Roman trotz ihrer sozialen Schieflage als Zwangspartner und belegen mit ihrer gegenseitigen Abhängigkeit ihre dialektische Verbundenheit. Bertolt Brecht brachte „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ ins Theater, und in der DDR erschien 1985 der „Hinze-Kunze-Roman“ von Volker Braun – beide an das Diderotsche Buch angelehnt.

Selbst Idealist, hat Hegel für manche seiner berühmten Sentenzen Anleihen beim Materialisten Diderot gemacht. Hegels „Bestimmte Negation“ findet sich schon in „Rameaus Neffe“ als „Wäre hier alles vortrefflich, dann wäre nichts vortrefflich“ – und „Wenn man nicht alles weiß, so weiß man nichts recht“ wird bei Hegel zu „Das Wahre ist das Ganze“. In der Philosophie ist der Bezug auf Erkenntnisse früherer Philosophen ein normaler Vorgang, ohne den Wissen gar nicht sinnvoll erweitert werden könnte. Diderot hätte sich folglich nicht um einen heute so beliebten Plagiatsprozess bemüht, sondern sich gefreut, dass seine Ideen – die wiederum selbst Ergebnis unter anderem der 2.300 Jahre alten Dialektik des Werdens bei Heraklit waren – qualifiziert verbreitet wurden. Denn geistiges Eigentum zu verteidigen, hieß die Verhältnisse zu verlängern.

3010 Denis Diderot signature - Linker Kopf der Aufklärung - Aufklärung, Denis Diderot, Freiheit, Materialist, Philosophie, Todestag - Theorie & Geschichte
Signatur von Denis Diderot

Denis Diderots Philosophie erreichte Verständlichkeit, indem sie den Dialog wählte – und sie war beliebt, weil sie humorvoll war. In der Trilogie „Von der Ordnung der Welt“ treten die Protagonisten 250 Jahre später in Diderots Spuren. Noem und Myop, zwei muntere Rheinländer, mäandern durch die Weltgeschichte der Philosophie genauso wie durch die heutigen Verhältnisse und beziehen sich dabei immer wieder auf ihren Lieblingsphilosophen.
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"Linker Kopf der Aufklärung", UZ vom 26. Juli 2024



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